Durst: Thriller (German Edition)
als würde man bei der Blutabnahme die Vene erahnen, ohne sie tatsächlich zu sehen. «
» Wenn ich so frei sein darf, Lamaielle: Ich habe der Erde mein Leben lang Blut abgenommen und kenne die Prozeduren. «
» Das weiß ich. Vielleicht habe ich mich falsch ausgedrückt. « Lamaielle sah immer noch nichts als diese schwarze Silhouette, und das machte ihn allmählich nervös. » Wenn Sie Wasser suchen, um es an die Oberfläche zu befördern, bohren Sie normalerweise ein Loch, durch das es von selbst emporsprudelt. Dieses Mal ist es jedoch anders: Wir suchen zwar Wasser, wollen aber nicht, dass es uns entgegenkommt. Das war es, worum Sie mich gebeten hatten. «
Die knochige Silhouette des Drachen stimmte ihm mit einer langsamen Geste zu.
» Das Wasser des Guaraní-Aquifers drängt mit aller Macht nach oben. Das vulkanische Gestein ist sehr hart und übt einen starken Druck aus. Ich versuche, die Stellen zu vermeiden, wo er zu stark ist, aber das ist Millimeterarbeit. Sie können sich das vorstellen wie bei diesen gewaltigen Stufen am Meeresgrund: Von einem Sockel von vielleicht hundert Metern Tiefe kann man mit einem einzigen Schritt in den Abgrund stürzen. «
» Verstehe « , sagte der Drache müde. » Hauptsache, wir gelangen an das richtige Reservoir und nicht an eine beliebige Grundwasserschicht. «
» Natürlich, Doktor Faucon. Ich kenne die Erde da unten gut. Das Einzige, was ich mich frage, ist, warum Sie das Wasser nicht einfach an die Oberfläche pumpen. Das wäre doch naheliegend, bei dem Druck, der da unten herrscht, oder? «
Der Drache kommentierte das gar nicht, sondern wechselte jetzt das Thema. » Sie haben auf dem Erdöl-Sektor gearbeitet, nicht wahr? «
» Ja, fast mein ganzes Leben lang. In den Siebzigern haben die Militärregierungen hier in der Gegend Erdöl gesucht, und wir haben eine detaillierte Karte des Untergrunds angefertigt. «
» Und warum arbeiten Sie nicht mehr auf diesem Gebiet? «
» Ich wollte nach Paraguay zurück, um zu unterrichten. «
» Sie waren, wie ich weiß, in Alaska in eine große Umweltkatastrophe verwickelt. «
Lamaielle kniff die Augen zusammen, um die Miene des Drachen erkennen zu können, aber vergeblich. Allerdings wurde er zu gut bezahlt, um sich zu beschweren.
» Ja, leider. Ich hatte das Unternehmen vor den Gefahren gewarnt, aber diese Engländer wollten nicht auf mich hören. Am Ende stand mein Name natürlich doch auf der Liste der Schuldigen. «
» Wie sind Sie damit fertig geworden? «
Lamaielle zögerte. » Man kann im Leben fast alle Schwierigkeiten überwinden, selbst die widrigsten. Ich darf kein Bankkonto mehr eröffnen, falls es Sie interessiert. «
» Das kann auch von Vorteil sein « , sagte der Drache.
Hector Lamaielle fand das nicht witzig, grinste aber trotzdem. Unwirsch schaute er rechts am Drachen vorbei, dann wieder links.
Ein bleiernes Schweigen senkte sich herab.
» Nun… « , sagte der Drache irgendwann, und plötzlich konnte Lamaielle auch seine blauen Augen sehen. Sie schienen in einem eisigen Lächeln erstarrt. » Ich gebe Ihnen bis Mittwochmorgen Zeit. Bei Morgengrauen sind Sie fertig, keine Stunde später. Bitte enttäuschen Sie mich nicht. «
Lamaielle hatte sich schon halb aus seinem Sessel erhoben. » Da müssen Sie sich keine Sorgen machen. « Und damit war er aus dem Zimmer verschwunden.
Drei schwarz uniformierte Beamte der Bundespolizei luden drei Kisten mit Papieren aus Davide Strazzons Arbeitszimmer in Santa Tereza do Oeste in ihre Toyotas. Zur selben Zeit fischten Emmanuel Polaco und Alessio Castro in einem taghell erleuchteten McDonald’s an einer Provinzstraße in Paraná die letzten Pommes aus der Packung.
Sie hatten versucht, die Fäden zu sortieren, die sie bislang in der Hand hielten.
» Eines ist mir immer noch nicht klar « , sagte Polaco und kratzte sich den Schädel mit den wenigen Haaren. » Warum fährt dieser Tätowierte, dieser Jefferson, der sich auf Landstreitigkeiten in Paraná spezialisiert hat, nach Juazeiro, um einen Arzt umzubringen? «
» Zu foltern und umzubringen « , stellte Alessio klar.
» Ja, okay, zu foltern. Warum? «
Castro wollte etwas sagen, hielt dann aber inne.
Polaco schwieg. Die Übermüdung der letzten beiden Tage musste schuld sein. Er dachte an seine Frau und seine Tochter, die vor fünf Tagen geboren worden war. Kurz nach der Geburt hatte er sie gesehen, genau zehn Minuten lang. Polaco war der Typ Polizist, der sich ohne Einsatz zu Tode langweilte.
Castros
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