Dustlands - Der Herzstein: Roman (German Edition)
er schon längst über alle Berge.
»Tag für Tag kommen hier Leute an«, sagt Auriel. »Alle mit der gleichen Geschichte. Sie haben aus ihrem Zuhause fliehen müssen. Haben weglaufen müssen, bevor sie von den Tonton getötet werden. Sie rauben Land. Jedes Stück Land, das man bestellen kann. Alles saubere Wasser. Dann setzen sie ihre eigenen Leute da rein, damit sie das Land bestellen – die Verweser der Erde. Bald wird alles, was östlich vom Ödland liegt, in den Händen der Tonton sein. New Eden nennen sie es, das neue Paradies. Und sie entscheiden darüber, wer da leben darf. Wer gut genug ist, um Teil ihrer neuen Welt zu sein.«
»Ich hab meinen Teil schon getan«, sag ich. »Hopetown ist nicht mehr. Vikar Pinch ist tot. Alles, was ich will, ist, dass du mich wieder in Ordnung bringst. Dass ich wieder ich selbst bin, damit ich mit meiner Familie nach Westen gehen kann. Damit ich mit Jack zusammen sein kann. Er ist dort, er wartet auf mich.«
Sie wirft noch eine Prise ins Feuer. »Wir müssen alle unsere Rolle spielen. Er, deine Schwester, dein Bruder, Tommo. Der Wolfshund. Ich. Sogar Nero. Lange vor deiner Geburt, Saba, ist eine Kette von Ereignissen in Gang gesetzt worden.«
»Du meinst das Schicksal. Da glaub ich nicht dran.«
»Nicht das Schicksal. Die Vorsehung. Ich sprech aus, was mein elementarer Führer mir sagt, was ich in dir seh. Für dich, Saba, führen alle Straßen an denselben Ort. Es ist besser, wenn du jetzt handelst als später. Viele Leute – nicht bloß jetzt, sondern auch künftig –, viele Leute brauchen dich.«
Dasselbe hat Pa auch zu mir gesagt. Kurz bevor er gestorben ist.
Sie werden dich brauchen, Saba. Lugh und Emmi. Und da werden noch andere sein. Viele andere. Gib der Angst nicht nach. Sei stark, ich weiß ja, dass du stark bist.
»Du und ich, wir haben viel zu tun«, sagt Auriel, »und nur sehr wenig Zeit dafür. Aber zuerst musst du schlafen.« Sie schürt das Feuer. Der süßliche Geruch wird stärker. Meine Lider fallen zu. Ich leg mich mit Nero ans Feuer und mach die Augen zu. Meine Knochen ächzen und pochen. Ich bin so müde, weil ich ständig versuch, mich zusammenzureißen, die Dunkelheit fernzuhalten.
Der Schlaf mit seinen schweren Händen beruhigt mich. Besänftigt mich. Entspannt mich.
Ich guck runter, runter, runter zum Grund. Zum uralten Grund des Sees. Wo Dunkles kauert. Wo Altes wartet. Wo es kauert und wartet … auf mich.
»Hab keine Angst.« Auriels Stimme flüstert in meinem Kopf. »Ich bin bei dir, ich begleite dich in deinen Träumen. In unseren Träumen finden wir nämlich zu uns selbst. Wer wir gewesen sind. Wer wir jetzt sind. Wer wir werden. Schlaf. Träum.«
E
in alter Mann steht an einem verkrüppelten Baum. Seine Haut glänzt, ein sattes Nussbraun. Seine lockigen weißen Haare hängen ihm den Rücken runter. Wir sind allein, er und ich, auf einer weiten flachen Ebene. Keine Hügel, kein Gras, kein Leben. Über uns ein sich verdunkelnder Himmel. Ein starker Wind weht. Der Baum leuchtet silberweiß.
Ich hab ihn noch nie gesehen, trotzdem kenn ich ihn. Ich erkenn ihn als das, was er ist. Krieger. Bogenmacher. Schamane. Er hält einen Bogen in Händen. Er ist weiß, wie der verkrüppelte Baum. Bleich, silberweiß.
Und ich weiß, warum ich hier bin. Was ich zu tun hab.
Ich geh zum Baum. Hock mich davor. Schling die Arme um den Stamm und zieh. Er gibt sofort nach. Keine Wurzeln. Als ich den Baum anhebe, kann ich sehen, was drunter liegt. Ein Grab. Eine Leiche. Ein Toter liegt ausgestreckt in der Grube. Der Kopf ist von einem dunkelroten Schal verhüllt. Er trägt eine verrostete, ramponierte Rüstung. Also ein Krieger. Mann oder Frau, wer weiß?
Ich guck den alten Mann an. Er nickt. Ich knie mich hin. Zieh den Schal weg.
Da ist kein Gesicht. Nur ein Umriss. Eine leere Fläche. So glatt wie der glatteste Stein. Fühlt sich auch an wie Stein, kalt und hart. Keine Augen, keine Nase, keine Lippen.
Dann ist der Schamane weg. Und ich bin allein. Plötzlich treibt der Baum überall grüne Blätter aus. Äste und Stamm wirken lebendig und neu.
Ich halt den weißen Bogen in der Hand. Und der stürmische Wind murmelt meinen Namen.
Saba. Saba. Saba.
» N och mehr Neuankömmlinge«, sagt Auriel.
Wir bleiben stehen. Ich kneif die Augen zusammen, die Sonne ist grell und blendet mich. Am anderen Ende des Lagers hält ein Maultierkarren mit einem Ruck an. Die Fahrerin bleibt noch eine Weile sitzen. Dann klettert sie steifbeinig und unbeholfen
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