Dustlands - Der Herzstein: Roman (German Edition)

Osten. Immer nach Osten. Wir werden in den Sonnenaufgang fahren. Genau wie gestern fahr ich vorn bei Slim mit. Lugh und Emmi reiten auf Hermes. Maev und Tommo sitzen hinten im Wagen. Tracker hat sich über meine Füße gelegt. Nero fliegt über uns und kommt immer mal wieder runtergestürzt, um zu gucken, was los ist.
    Slim plappert und plappert und erzählt mir, dass zwischen Sonnenuntergang und Sonnenaufgang Ausgangssperre herrscht. In den dunklen Stunden erlauben die Tonton kein Reisen. »Aber wir haben ein Ziel«, sagt Slim. »Das Lost Cause oder gar nichts.« Er hält sich an die Hauptstraße, solang wir da schneller vorankommen. Wir müssen bloß von der Straße runter, bevor wir nach Maryville Drift kommen. Das wird wahrscheinlich so um den Sonnenaufgang rum sein. Sie haben da einen Wachposten, deshalb werden wir vorher einen von Slims kleinen Umwegen auf einer Nebenstraße nehmen.
    Die Räder des Wagens rattern, schlucken Zeit und Wegstrecke. Die Landschaft verändert sich. Allmählich sehen wir die Schatten von sanften, faltigen Hügeln. Birkenwäldchen, schlanke silberne Gespenster in der Dunkelheit. Nicht mehr lang bis zum Morgengrauen.
    Slim sitzt aufrechter. Seine Hände halten die Zügel fester. Das Reisen auf diesen Straßen lässt ihn nicht so kalt, wie er behauptet. »Es ist nicht mehr weit bis Maryville«, sagt er. »Wir müssen anfangen, Ausschau zu halten nach –«
    »Wonach?«, frag ich.
    Er flucht leise. »Als ich das letzte Mal hier durchgekommen bin, hat das noch anders ausgesehen.« Genau vor uns, links vom Weg, sehen wir Anzeichen einer neuen Ansiedlung. Einen gerodeten Fleck Land in einem Birkenwald. Die gefällten Bäume sind behauen und ordentlich am Rand gestapelt. Die Hälfte der Baumstümpfe sind schon ausgegraben. Eine dicke Kette und ein Pferdejoch liegen bereit. Und da sind auch die Pferde. Zwei stämmige zottelige Mustangs. Sie sind an einem Pflock neben einem Zelt angebunden. Ein Zelt. Hier ist jemand.
    Ich ziel mit dem Bolzenschießer auf Slim. »Bring uns hier weg. Schnell.«
    Slim lässt die Zügel auf Moses’ Rücken klatschen. Das Kamel läuft schneller. Slim schlägt ihm noch mal die Zügel auf den Rücken, und jetzt fliegt Moses fast. Als wir an dem gerodeten Land vorbeirasen, drehen wir uns um. Jemand kommt aus dem Zelt. Das Rumpeln der Räder hat ihn geweckt. Es ist ein junger Mann. Kurze Haare. Groß mit breiten Schultern. Er zieht sein Hemd über.
    Er ruft: »Lang lebe der – Hey! Hey, kommt zurück! Es ist noch Ausgangssperre! Halt! Lasst mich eure Zeichen sehen!«
    Ich drück Slim den Bolzenschießer an die Schläfe. »Denk nicht mal dran.«
    »Keine Angst. Hüa, Moses! Hüa!«
    Ich halt mich an der Wagenseite fest und guck zurück. Der Kerl läuft zu den Pferden und schreit was. Ein junges Mädchen kommt mit zwei Feuerstäben aus dem Zelt gerannt. Einen davon wirft sie ihm zu.
    »Sie kommen hinter uns her«, sag ich. »Da ist auch ein Mädchen.«
    »Verdammt«, sagt Slim.
    Hermes holt zu uns auf. Lugh und Emmi gucken zu uns rüber.
    »Was jetzt?«, fragt Lugh.
    »Bring das Kind in Sicherheit!«, schreit Slim. »Da vorn kommt ein Hügel. Wenn du an dem vorbei bist, reit nach rechts. Warte an der langen Steinmauer auf uns. Die kannst du nicht verfehlen. Los!«
    Lughs Blick trifft meinen. »Mach keine Dummheiten.«
    »Keine Angst«, sag ich.
    »Halt dich fest, Em!« Er gibt Hermes die Fersen, und sie rasen davon.
    Ich stell mich auf den Sitz, halt mich am Rand vom Dach fest und guck drüber. Der Mann sitzt jetzt auf einem der Pferde und galoppiert hinter uns her. Das Mädchen kommt nicht weit hinter ihm.
    Ich lass mich zurück auf den Sitz rutschen. »Sie holen auf«, sag ich. »Was tun wir jetzt?«
    »Du musst sie töten«, sagt Slim. »Sonst melden sie, dass ich gegen die Ausgangssperre verstoßen hab, dass ich nicht angehalten hab. Jeder kennt das Kompendalorium. Die Tonton würden nach uns suchen.« Sein Ton ist sachlich. Als ob er übers Wetter redet.
    Ich atme tief durch. »Halt den Wagen möglichst ruhig.« Ich stell mich wieder auf den Sitz. Schieb den Bolzenschießer hinten unter meinen Gürtel. Zieh mich aufs Wagendach. Dann leg ich mich flach auf den Bauch. Der Wagen holpert und ruckelt. Wir fahren durch ein Loch. Ich flieg hoch. Komm hart auf. Wenn ich mir hier nicht eine Rippe brech oder runterfall, ist das ein kleines Wunder. Ich hab das Gefühl, Lugh könnte das hier für eine Dummheit halten. Aber dass der Wagen so ein Klapperkasten ist, ist mein