Dylan & Gray
aus dem Gesicht. Ich versuche sie zu küssen, aber sie lehnt sich zurück und schaut mich durchdringend an.
»Weißt du, was der Grund ist? Man bringt uns bei, dass wir Liebe nur in kleinen Portionen verschenken dürfen. Als Kind ist es okay. Da dürfen wir es sogar zu Wildfremden sagen. Aber irgendwann erzählt man uns plötzlich, das sei nicht richtig. Je älter wir werden, umso mehr igeln wir uns ein, und umso selbstsüchtiger bewachen wir unsere Gefühle. Was nur dazu führt, dass wir alle immer unglücklicher werden.«
Sie plumpst zurück in meine Arme. Ich sehe, wie die Gedanken durch ihre Augen flackern und Dylan mit neuer Energie aufladen.
»Da bin ich anderer Meinung«, versuche ich zu widersprechen.
»Aber irgendwie hast du natürlich recht«, plappert sie weiter. »Unser Alltagsverstand sagt uns, dass wir nur für wenige Menschen echte Gefühle haben können, und deshalb mauern wir unsere Liebe ein, als sei sie eine mystische heilige Quelle, die irgendwann austrocknen könnte. Aber je mehr man liebt, desto mehr Liebe erhält man zurück. Dazu muss man sich nicht mal anstrengen. Stimmt doch, oder?«
»Kann schon sein«, sage ich. »Aber vielleicht hört man auch auf, mit Liebe um sich zu schmeißen, wenn sie einem zum ersten Mal entrissen wurde. Weil es so weh tut, dass man sich davor schützen will, das Gleiche noch einmal zu spüren.«
Natürlich weiß sie, worauf ich anspiele. »Nur stellt man irgendwann fest, dass einem ohne Liebe der Grund fehlt, überhaupt zu leben«, sagt Dylan.
Sie lehnt sich an mich und ich halte sie in meinen Armen. Natürlich liebe ich Dylan. Ich bin völlig verrückt nach ihr. Aber gleichzeitig bin ich misstrauisch, weil ich nicht verstehe, wie sie so plötzlich in mein Leben schneien konnte, womit ich sie überhaupt verdient habe und wohin das alles führt. Jeden Tag warte ich darauf, dass Dylan morgens aufwacht und mich zum ersten Mal so sieht, wie ich wirklich bin. Nämlich nicht besonders heldenhaft und meilenweit entfernt von diesen romantischen Typen, die immer in Frauenfilmen vorkommen. Sie wird erkennen, dass sie bessere Kandidaten für ein Date bekommen kann als mich. Weil das schließlich die reine Wahrheit ist. Und was wird dann aus mir? Zermatschte Überreste auf dem Fußboden.
***
Ich beschließe, ihre Theorie zu testen. Wenn man mehr Liebe gibt, bekommt man auch mehr zurück, behauptet Dylan. Also warte ich ab, bis wir im Irish Pub mitten in einem Pacman-Spiel sind und dann gestehe ich ihr meine Liebe. Ich finde das nur fair, schließlich hat sie sich auch den merkwürdigsten Zeitpunkt der Welt ausgesucht. Ich klaue sogar ihre Formulierung, sodass der Satz nun folgendermaßen klingt: Ich liebe dich und Pacman, aber dich ein bisschen mehr. Als ich die Worte endlich herausgebracht habe, fühlt es sich kein bisschen gezwungen, peinlich oder schwierig an. Auch nicht so, als würde sich dadurch schlagartig mein Leben ändern. Sondern einfach nur richtig.
Dylan wendet die Augen nicht von dem Computerbildschirm ab. Sie ist kurz davor, meinen Rekord zu schlagen und so leicht lässt sie sich nicht ablenken. Sie lächelt nur in sich hinein und sagt, dass sie Pacman auch sehr lieb hat.
E rste Frage
Gray
Ein paar Tage später entdecke ich auf meinem Handy eine Nachricht von Coach Clark … Das ist der Baseball-Trainer an der Universität von New Mexico, der vor zwei Jahren versucht hat, mich anzuwerben. Die SMS besteht aus der Einladung, mit ihm Kontakt aufzunehmen, und seiner privaten Telefonnummer, über die er immer erreichbar ist. Zu meiner Überraschung klingt der Text, als wären wir ein prima Team und hätten eine gemeinsame Zukunft.
Ich rufe ihn auf dem Weg zum Job an und er klingt ehrlich erfreut, von mir zu hören. Erfreut … wegen mir … dem Jungen, der in letzter Sekunde sein Stipendium weggeworfen hat … dem Loser, der sein Team und seinen Trainer im Stich gelassen hat, weil er lieber zu Hause bei Mama und Papa bleiben wollte.
Wir beginnen mit Small Talk und er fragt mich, was ich in der Zwischenzeit getan habe. Nicht viel. In weniger als einer Minute fasse ich das letzte Jahr meines Lebens zusammen. Was soll man schon erleben, wenn man im Dunkeln hockt und sich versteckt? Eigentlich bin ich erst diesen Sommer wieder zum Leben erwacht, weil ein gewisses Mädchen mir eine gewaltsame Reanimation verpasst hat.
Er fragt, wie es mir geht. Dabei tänzelt er nervös um das Thema Amanda herum. Und zum ersten Mal kann ich ehrlich sagen, dass ich mich
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