Dystopia
würde es trotzdem tun.»
Darauf sagte sie nichts mehr.
Travis ging zur Couch hinüber. Als er Bethanys Rucksack am Boden abstellte, hörte er das leise Klirren der SIG 220, die sich zusammen mit der Flintenmunition darin befand. Die Flinte selbst hatte er auf der anderen Seite der Iris zurückgelassen, ein paar Stockwerke weiter unten in dem Skelett des Gebäudes. Zum Schutz vor dem Regen hatte er sie unter eine noch intakte Metallplatte ein paar Meter vom Treppenaufgang gelehnt. Weil es irgendwie keine gute Idee schien, mit einer Repetierflinte in der Hand im Wohnzimmer des ehemaligen Präsidenten aufzutauchen.
Er streckte sich lang auf der Couch aus. Ließ sich tief in die Polster sinken. Schloss die Augen. Horchte auf das Klappern der Tastatur im Nebenzimmer und die gedämpften Geräusche der Stadt.
Wie es wohl wäre, wenn er ihr einfach die Wahrheit sagte? Das könnte er jetzt sofort tun. Sogar den Zettel hatte er dabei, zusammengefaltet in seiner Brieftasche. Eine Botschaft von einer künftigen Version Paiges, die sie mit einem besonderen Verfahren durch die Pforte geschickt hatte, sodass sie in der Vergangenheit zum Vorschein kam – noch verfügte Tangent nicht über diese Möglichkeit, künftig aber schon, das war eindeutig. Paiges Botschaft an sich selbst war im Sommer vor zwei Jahren eingetroffen, mit einer ganz spezifischen Anweisung:
Töte Travis Chase.
Ein künftiger Travis hatte diesen Zug durchkreuzt. Unter Zuhilfenahme von Technologie aus der Pforte hatte er das Flüstern erschaffen – das natürlich in Wirklichkeit ganz anders hieß – und es viel weiter zurückgeschickt: ins Jahr 1989. Dort war das Flüstern dann sogleich ans Werk gegangen, hatte alles anders geordnet und die Karten neu gemischt, damit Travis – in seiner jetzigen Erscheinungsform – zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein konnte, um Paiges Nachricht bei ihrem Eintreffen abzufangen.
Bis heute bereitete es Travis Mühe, das Geschehen gedanklich vollauf zu erfassen. Es war, als würde man einer Schlange zusehen, die sich vom Schwanz her selbst auffraß. Warum war dieser Gegenzug von der zukünftigen Paige nicht durch einen Gegen-Gegenzug gekontert worden? Abermals gekontert durch einen weiteren Zug des künftigen Travis? Ob diese künftigen Versionen ihrer selbst überhaupt noch existierten, war das logisch möglich? War inzwischen nicht alles auf einer ganz anderen Bahn? Er rechnete nicht damit, dass er das alles jemals völlig verstehen würde.
Aber er könnte es ihr sagen.
Er könnte sich jetzt auf der Couch aufrichten, sie unerschrocken ansehen und ihr alles erzählen. Könnte ihr den Zettel mit der Botschaft zeigen.
Danach würde es ihm besser gehen, obwohl er ihre Einladung noch immer nicht annehmen könnte. Wie auch immer ihre Reaktion ausfallen mochte, zu Tangent würde er niemals zurückkehren. Das kam einfach nicht in Frage, solange er weiter darüber im Dunkeln tappte, wodurch der andere Travis dort, im Lauf jener ursprünglichen Zukunft, verdorben und zu einem Schurken gemacht worden war.
Und das würde er auch niemals erfahren.
Er richtete sich nicht auf.
Er lag dort und lauschte ihren Atemzügen. Schwelgte in Erinnerungen daran, wie es gewesen war, ihren Atem ganz aus der Nähe zu hören, direkt vor seinem Gesicht.
«Willst du wissen, warum ich tatsächlich dagegen bin, das Portal zu versiegeln?», sagte Paige unvermittelt.
Travis schlug die Augen auf und sah sie an. Sie saß weiter mit geschlossenen Augen im Sessel.
«Ja», sagte er.
«Weil ich jeden Morgen mit der Hoffnung aufwache, dass an diesem Tag endlich mal etwas Gutes hindurchkommt. Etwas
wirklich
Gutes, das wir zum Wohl der ganzen Welt einsetzen könnten. Warum sollte das nicht möglich sein? Es sind schon alle möglichen Sachen herausgekommen, die der ganzen Welt hätten schaden können. Und auch eine Reihe kleiner Sachen, die gut waren. Wie zum Beispiel der Sanitäter. In jeder Notaufnahme könnten damit wahre Wunder bewirkt werden, aber leider könnte man ja nur eine Klinik damit ausstatten. Und wie sollte man erklären, wo das Gerät herstammt? So ist das immer bei den guten Sachen. Hast du mal von einer Entität namens Pokerchip gehört?»
«Nein.»
«Es handelt sich, wie der Name schon sagt, um eine Art Jeton, hellrot und etwa so groß wie ein Vierteldollar. Nicht direkt einzigartig, aber sehr selten. Über die Jahre sind nur fünf davon zum Vorschein gekommen. Wenn man ihn in die Hand nimmt, haftet er sich sofort an der Haut
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