Dystopia
fest, mit einer Art Rankengespinst, das kaum sichtbar ist. Gruselig zunächst, deshalb haben wir ihn an Tieren erprobt. Seinen Zweck haben wir erst nach einer Weile herausgefunden: Er verlangsamt den Alterungsprozess. Auf etwa ein Drittel, und zwar bei allen möglichen Lebewesen – bei Käfern, Mäusen, Ratten. Fünf Leute hätten also theoretisch die Möglichkeit, den Pokerchip rund um die Uhr am Körper zu tragen und all ihre Freunde zu überleben. Nicht übel, oder?»
Sie schlug die Augen auf und sah ihn an.
«Ich klammere mich an die Hoffnung, dass eines Tages etwas herauskommt, das von Nutzen für die gesamte Welt ist. Etwas, bei dem wir die Sektkorken knallen lassen und vor Freude in Tränen ausbrechen. Etwas, das einen Wendepunkt der menschlichen Geschichte markiert. Das ist der Gedanke, für den ich bereit bin, alles andere in Kauf zu nehmen.»
Sie schwieg kurz. Doch dieses Schweigen war nicht mehr ganz so befangen wie zuvor.
Paige sah auf ihre Hände hinab, die sie vor sich auf dem Schoß gefaltet hatte.
«Ich verstehe, dass es da etwas gibt, was du mir auf gar keinen Fall erzählen kannst», sagte sie. «Und ich verstehe auch, dass es nichts mit deinen Gefühlen mir gegenüber zu tun hat. Weil ich weiß, was du für mich empfindest. Als ich gestern Morgen aus Finns Büro auf diesen Stahlträger hinausgestiegen bin und als Erstes gleich dich gesehen habe, war ich kein bisschen überrascht. Damit gerechnet hatte ich zwar nicht direkt – aber als ich dich sah, kam es mir vor wie die normalste Sache auf der Welt, dass du mich dort erwarten würdest. Dass du für mich da sein würdest. Ich weiß also Bescheid. Und ich verstehe … ohne im eigentlichen Sinn zu verstehen. Eine Fähigkeit, die ich dank der Pforte schon seit langem entwickelt habe. Dinge zu begreifen, ohne sie wirklich zu begreifen. Ich begreife also, dass es da nun einmal etwas gibt, was du mir um jeden Preis verschweigen musst, und dass dich das selbst am meisten quält. Dass du viel lieber reden würdest, wenn du könntest.»
Sie sah ihn wieder an, und er erwiderte ihren Blick.
«Danke», sagte er.
«Nichts zu danken.»
Sie brachte so etwas wie ein Lächeln zustande. Er lächelte mühsam zurück. Dann ließ er sich wieder auf die Couchpolster zurücksinken und sah zur Decke hinauf.
Er hörte, dass sie aufstand. Und dann stieg sie auch schon zu ihm auf die Couch, zwängte sich zwischen ihn und die Rückenlehne, ohne ein Wort zu sagen, und gleich darauf hielten sie einander so eng umschlungen, wie es nur ging, und er presste die Lippen auf ihre Stirn und küsste sie. Es war, als gäbe es nur noch sie auf der Welt, warm und weich, verletzlich und lebendig, während er ihren Atem an seinem Hals spürte und sie ihn ganz fest umklammert hielt.
Er hatte jedes Zeitgefühl verloren. Stunden hätten vergehen können, während er sie so in seinen Armen hielt, ohne dass er es bemerkt hätte. Ein schrecklicher Gedanke eigentlich, weil dieses kurze Beisammensein vermutlich alles war, was ihnen jemals vergönnt sein würde. Und selbst diese kurze gemeinsame Zeit verrann unerbittlich, das spürte er bereits.
Er dachte über ihre eben geäußerten Worte nach, wie sie es empfunden hatte, ihn dort oben auf dem Bürohochhaus in Washington zu sehen. Dachte darüber nach, wie denkbar knapp dieses Zusammentreffen zustande gekommen war. Bloß eine Minute später, und alles wäre verloren gewesen. Er und Bethany waren drauf und dran gewesen, ihre eigene Iris zu öffnen, als Finn die seine öffnete. Ohne diese Wendung der Geschehnisse wäre der Schusswechsel, wenn man es überhaupt so nennen konnte, nicht halb so günstig verlaufen. Hätte sich nicht dieses Überraschungsmoment ergeben, hätten Finns Leute das Feuer zielgerichtet erwidern können, und Paige wäre ohne jede Deckung ins Kreuzfeuer geraten. Ihre Überlebenschancen wären gleich null gewesen.
Er drückte ihr einen Kuss aufs Haar. Zog sie noch enger an sich. Bemühte sich, nicht daran zu denken, wie die Sache auch hätte ausgehen können. Alles nur eine Frage des Zufalls, so sah es aus. Aber sie hatten eben Glück gehabt.
Er schloss die Augen und sog genüsslich den Duft ihrer Haare ein.
Fünf Sekunden später öffnete er die Augen wieder.
Ein Gedanke war ihm gekommen. Eine Erinnerung. Ganz deutlich und hartnäckig. An etwas, das geschehen war, kurz nachdem Finn von seinem Büro aus die Iris geöffnet hatte. Paige war noch nicht direkt herausgekommen. Zunächst war Finn an die Öffnung
Weitere Kostenlose Bücher