Éanna - Ein neuer Anfang
Buchhändler.
»Die Neugierde. Ich wollte das gelobte Land Amerika mit eigenen Augen sehen, von dem ich schon so viel gehört habe und mit dem mein Volk nicht erst seit der Hungersnot schicksalhaft verbunden zu sein scheint. Und dabei war ich sicher, dass es einem unternehmungslustigen und aufgeschlossenen Mann wie mir viel zu bieten hat«, antwortete Patrick leichthin. Dass er auch vor ein paar irischen Rebellen nach New York geflüchtet war, die ihm in seiner Heimat nach dem Leben trachteten, verschwieg er wohlweislich. Charles Templeton seufzte, sichtlich zufrieden mit Patricks Antwort. »Ja, Neugier ist, zumal wenn sie mit Wissensdurst und aufrichtiger Offenheit für das Neue und Fremde einhergeht, gewiss eine der vornehmsten Tugenden des Menschen und wohl auch eine seiner stärksten Antriebskräfte. Wo wäre die Menschheit heute ohne die brennende Neugierde, die jeden Fortschritt vorantreibt?«
»Vermutlich noch mit umgebundenem Fellschurz in der Höhle und mit Keule und Steinaxt in der Hand auf der Jagd nach wilden Tieren. Völlig ahnungslos, was Bücher sind, wie viel sie einem Menschen bedeuten und was sie ihm geben können!«, antwortete Patrick schlagfertig.
Der Buchhändler lachte vergnügt auf. »In der Tat, und könnt Ihr Euch meine Wenigkeit mit einem Lendenschurz um die Hüfte und einer Keule in den Händen vorstellen? Nein, nein, glaubt mir, ich danke dem Himmel jeden Tag aufs Neue für das Gottesgeschenk der menschlichen Neugierde und des Wissensdurstes!«
Als sie wenig später an der Ladentheke standen und Charles Templeton die vier Bücher sorgfältig in Seidenpapier einschlug, kam Patrick endlich auf den eigentlichen Grund seines Besuches zu sprechen. »Darf ich Euch zum Schluss noch um eine sehr persönliche Gefälligkeit bitten, die nichts mit Büchern zu tun hat, Mister Templeton?«
»Gewiss, gewiss! Sagt nur frei heraus, was Ihr auf dem Herzen habt! Dann wird sich schon zeigen, ob ich Euch behilflich sein kann!« Fragend sah der Buchhändler Patrick über seinen Kneifer hinweg an.
»Ich würde gerne bei Euch die Adresse meines derzeitigen Quartiers hinterlegen und sie zu gegebener Zeit durch eine neue austauschen, wenn ich eine feste Bleibe gefunden habe.«
»Aber natürlich«, willigte Charles Templeton sofort ein. »Und wem sollen diese Informationen dienen, wenn ich fragen darf?«
»Einer jungen Frau namens Éanna Sullivan, die mit mir auf demselben Schiff nach New York gekommen ist und mit der mich einiges verbindet«, erklärte Patrick und errötete unter dem amüsierten Blick des Buchhändlers. »Ich habe ihr meine Hilfe angeboten, weiß jedoch nicht, ob und wenn ja wann sie davon Gebrauch machen wird. Jedenfalls habe ich ihr mein Wort darauf gegeben, dass sie hier bei Euch in Erfahrung bringen kann, wo ich untergekommen bin, wenn sie es möchte.«
»Dann will ich hoffen, dass diese junge Frau Euer Angebot zu schätzen weiß und Euch darüber hinaus nicht gar zu lange in Herzensnöten lässt.« Der Buchhändler schmunzelte, nahm den Zettel mit der Hoteladresse in Empfang und legte ihn in sein Kassenbuch.
Patrick dankte ihm, bezahlte die Bücher und verabschiedete sich mit den Worten: »Ich denke, Ihr werdet mich schon bald wieder in Eurer Buchhandlung sehen.«
Charles Templeton zwinkerte ihm zu. »Dessen bin ich mir gewiss, Mister O’Brien.« Verschwörerisch tippte er dabei auf sein schwarzes Kassenbuch.
Als er die Ladentür öffnete und auf die Straße hinaustreten wollte, wäre Patrick fast mit einem livrierten Boten von vielleicht dreizehn, vierzehn Jahren, der es sichtlich eilig hatte, zusammengeprallt. Bevor die Tür hinter ihm ins Schloss fiel, hörte er noch, wie der Junge dem Buchhändler atemlos zurief: »Ein Telegramm für Euch aus Chicago, Mister Templeton!«
Patrick blieb noch einen Augenblick vor dem Laden stehen und betrachtete zufrieden die geschmackvoll zusammengestellten Auslagen. Dann schlenderte er mit seinen neu erstandenen Bücherschätzen unter dem Arm langsam um die Ecke in Richtung Broadway. Seine Gedanken waren nicht länger bei Charles Templeton und seiner Buchhandlung, sondern bei Éanna.
Sechstes Kapitel
Éanna und Emily hatten sich in der warmen Mittagssonne auf den Resten einer Mauer in Lower Manhattan niedergelassen, die ein Grundstück begrenzte, auf dem man erst vor Kurzem ein Haus abgerissen hatte. Während Emily mit geschlossenen Augen die Sonnenstrahlen genoss, schaute Éanna zu drei zerlumpten Kindern hinüber, die in diesem Moment
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