Éanna - Ein neuer Anfang
sie sich in die wartende Schlange hinter dem Mädchen ein, das ihnen die kostbare Auskunft gegeben hatte. Keinen Augenblick zu früh, denn da bog schon eine weitere Gruppe von Kindern um die Ecke und eilte zum Tordurchgang.
Es dauerte eine Weile, bis sie endlich im Schuppen von Mister Patterson standen, ihre vierzig Cent auf den verschrammten Tisch legen konnten und von ihm einen Karton mit siebzig Streichholzschachteln ausgehändigt bekamen.
Weitere zwei Cent kostete sie kurz darauf in einem Laden für Nähbedarf eine Rolle dünnes weißes Garn.
»Nun bleibt uns noch genau der eine Cent für ein Stück Brot am Mittag übrig, auch wenn wir keine einzige Schachtel loskriegen!«, stellte Emily fest.
»Von wegen! Wir werden sie heute alle verkaufen!«, sagte Éanna zuversichtlich. »Und morgen haben wir dann Geld, damit jede von uns einen eigenen Karton kaufen kann!«
Sie suchten sich eine stille Ecke, wo sie aus jeder Schachtel mehrere Streichhölzer herausnahmen und mit dem Garn zu kleinen Bündeln zusammenschnürten. Dabei dauerte es eine ganze Weile, bis sie herausgefunden hatten, wie viele Hölzer man aus jeder Schachtel nehmen musste, um zwanzig zusätzliche Bündel zu erhalten. Schließlich aber zogen sie erwartungsvoll und mit neuer Hoffnung los, um als Peddler, wie herumziehende Straßenverkäufer in New York genannt wurden, ihr Glück zu versuchen.
Doch schnell holte die raue Wirklichkeit der Großstadt die beiden ein; bereits nach wenigen Stunden hatten Éanna und Emily gelernt, wie mühselig das Leben eines Streichholzpeddlers war, wie hart jeder einzelne Cent erkämpft werden musste. Diejenigen Mädchen, die schon länger im Geschäft waren, betrachteten einige belebte Straßenblocks mit den dazugehörigen Tavernen und Cafés als ihr ureigenes Revier. Auch andere Erfolg versprechende Örtlichkeiten wie Kreuzungen, wo die Menschen stehen bleiben und auf einen günstigen Moment zum Überqueren der Straße warten mussten, waren heiß umkämpft.
Mit der Verbissenheit von Menschen, deren Überleben an einem seidenen Faden beziehungsweise an einigen Dutzend Streichholzbündeln und -schachteln hing, wurden diese Orte gegen unerwünschte Konkurrenz verteidigt. Éanna und Emily mussten sich an diesem ersten Tag in ihrem neuen Geschäft Verwünschungen und Flüche anhören, sie wurden bespuckt und zweimal sogar von mehreren verwahrlost aussehenden Kindern mit selbst gemachten Messern und spitz zulaufenden scharfen Glasscherben bedroht.
»Ich schätze, wir sollten uns eine Gegend suchen, wo wir nicht an jeder Ecke in einen Streit mit anderen Streichholzmädchen geraten, die hier schon länger ihre Runden ziehen«, sagte Emily, als sie mittags erschöpft und ernüchtert in einem kleinen Park in Lower Manhattan Rast machten. Bisher hatten sie kein einziges Streichholz verkauft und ihre Hoffnung, an diesem Tag vierzig oder gar fünfzig Cent zu verdienen, war rapide gesunken.
»Du hast recht, so wird das mit diesem Geschäft nichts«, stimmte Éanna ihr zu. »Lass uns doch weiter hoch in den Norden der Stadt laufen. Auf dem Weg können wir im Buchladen von diesem Mister Templeton vorbeischauen.«
»Willst du die Bücher wirklich schon verkaufen?«, fragte Emily überrascht.
Éanna schüttelte den Kopf. »Nein. Sie sollen unsere eiserne Reserve bleiben für Zeiten, in denen es uns dreckig geht. Aber es schadet doch nichts, sich das Geschäft schon einmal anzusehen.« Sie biss sich auf die Lippen, weil sie nur zu gut wusste, dass sie ihrer Freundin nicht die volle Wahrheit sagte. Doch allein bei dem Gedanken daran, in der Buchhandlung tatsächlich eine Nachricht von Patrick O’Brien vorzufinden, schlug ihr Herz plötzlich schneller. Einerseits hätte sie nur zu gern gewusst, wie es ihm in den letzten Tagen ergangen war, andererseits hatte sie sich geschworen, ihn für immer aus ihrem Leben zu verbannen.
Gedankenverloren folgte sie Emily. So wanderten sie erst ein Stück die Bowery Street hinauf, die mit ihren zahllosen Tavernen, Dancing Saloons, deutschen Biergärten, Bowlingbahnen, Spielklubs, Varietétheatern und anderen Vergnügungsstätten als der Broadway des kleinen Mannes galt. Aber auch hier, wo Tag und Nacht ein potenzieller Kundenstrom die Straße auf und ab wogte, mussten sie schnell die Flucht vor der Konkurrenz antreten.
Dann aber hatten sie endlich Glück und konnten ihre ersten beiden Streichholzschachteln in der Broome Street verkaufen, die die meilenlange Bowery Street kreuzte und wie der
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