Éanna - Ein neuer Anfang
sie an sich. »So und damit genug unserer weisen Worte. Auf zu Mister Templeton!«
Wenig später standen sie an der Ecke Green und Bleeker Street vor dem Buchladen. Doch er war ganz offensichtlich geschlossen. Ein großes Schild war von innen gegen das Glas der Ladentür geklebt, auf dem in schöner, leicht verschnörkelter Handschrift eine Nachricht für Mister Templetons Kundschaft stand:
Ich bedaure, meiner werten Kundschaft hiermit mitteilen zu müssen, dass meine Buchhandlung aufgrund einer dringenden und traurigen Familienangelegenheit, die meine sofortige Abreise nach Chicago nötig gemacht hat, für einige Zeit geschlossen sein wird. Sowie es mir möglich ist, wieder nach New York zurückzukehren, wird Ihnen Templeton’s Fine Books wieder zu den üblichen Öffnungszeiten zur Verfügung stehen.
Mit der Bitte um Verständnis für diese Unannehmlichkeit, die zu meiner großen Betrübnis mit der vorübergehenden Schließung für viele meiner werten Kunden verbunden sein dürfte, und in der Hoffnung auf loyale Verbundenheit!
Charles J. Templeton, 27. Mai 1848
PS: Bestellte und zurückgelegte Bücher werden bei meiner Rückkehr gern ausgeliefert, unterliegen jedoch nicht dem Abnahmezwang!
Als Éanna die Nachricht gelesen hatte, fühlte sie sich erleichtert und war zugleich doch auch ein bisschen enttäuscht. Sie würde also auf unbestimmte Zeit nicht in Erfahrung bringen können, ob Patrick O’Brien Wort gehalten und ihr tatsächlich hier eine Nachricht hinterlegt hatte. Und auch sein kostbares Geschenk war damit erst einmal wieder in Sicherheit, denn sie wollte die sechs Bücher keinem anderen Buchhändler anvertrauen. Irgendetwas in ihr hatte sich von Anfang an gegen den Gedanken gesträubt, die wunderschöne Gesamtausgabe gegen eine Handvoll Münzen einzutauschen, von denen nach einiger Zeit nichts mehr übrig sein würde. Denn mit Patricks Präsent verband sie wertvolle Erinnerungen an die Zeit in seinem Schreibzimmer in der Dorset Street. Niemandem, nicht einmal Brendan oder Emily, hatte sie jemals so viel über ihr Leben und ihre Vergangenheit anvertraut wie ihm. Selbst vom qualvollen Tod ihrer Eltern und Geschwister hatte sie Patrick O’Brien damals erzählt.
»Chicago, was ist das eigentlich für eine Stadt?« Emilys Stimme riss sie aus ihren Gedanken. »Liegt sie weit weg von hier?«
Éanna versuchte, sich zu erinnern. Mister O’Brien hatte ihr einmal eine Landkarte von Amerika gezeigt. Aber allzu gut vermochte sie sich nicht an die Einzelheiten zu erinnern. Sie wusste nicht mehr genau, wo dieses Chicago lag. Was ihr dagegen noch deutlich vor Augen stand, war, wie unermesslich groß Amerika auf der Karte gewirkt hatte. Zwischen den beiden Küsten im Osten und im Westen erstreckten sich mehr als dreitausend Meilen Land und einige dieser Gebiete waren bis heute nicht einmal von Menschen erschlossen worden, hatte sie damals erfahren und war von dieser Information unglaublich beeindruckt gewesen.
»Ich glaube, Chicago liegt irgendwo im Westen an einem riesigen Binnensee und man muss ganz sicher eine lange Reise mit der Eisenbahn oder dem Schiff auf sich nehmen, um dort hinzukommen. Aber mehr weiß ich leider auch nicht.«
»Dann kann es ja noch lange dauern, bis Mister Templeton zurückkommt und sein Geschäft wieder aufmacht«, sagte Emily und zuckte die Achseln. »Na ja, in New York gibt es genug andere Buchhandlungen, wo du die Bücher verkaufen kannst, wenn es nötig werden sollte.«
»Lass uns erst mal sehen, wie weit wir beide es als Peddler bringen und ob Brendan vielleicht heute auch eine Arbeit gefunden hat«, antwortete Éanna ausweichend.
Als die beiden Mädchen am Abend müde und mit schmerzenden Füßen im Logierhaus eintrafen, hatten sie zwar nicht all ihre Schachteln und Bündel verkauft, aber es blieben doch, wenn sie die vierzig Cent abzogen, die sie am Morgen für den Karton vorgestreckt hatten, immerhin zweiunddreißig Cent Gewinn übrig. Es war mühsam verdientes Geld, aber zum ersten Mal seit ihrer Ankunft in Amerika kehrten Éanna und Emily nicht mit leeren Händen ins Emerald Isle zurück. Und das stimmte sie hoffnungsvoll, in den kommenden Tagen mit etwas mehr Übung und Erfahrung noch deutlich mehr Streichhölzer verkaufen zu können.
Brendan strahlte, als er sich wenig später zu ihnen an ihren angestammten Platz im Schankraum setzte und von den Neuigkeiten erfuhr.
»Und morgen werden es vielleicht schon vierzig Cent sein, die wir am Abend vorweisen können!«,
Weitere Kostenlose Bücher