Éanna - Ein neuer Anfang
zu kommen.
»Einer von euch sollte immer hier unten beim Leiterwagen bleiben und aufpassen, dass niemand etwas stiehlt!«, sagte Liam zu Éanna und Emily. »Sonst ist der Karren im Handumdrehen geplündert!«
»Wir wechseln uns ab! Bleib du zuerst hier, Emily«, schlug Éanna vor und griff sich einen der Stühle, während Liam und Brendan den Tisch vom Karren hoben, um ihn gemeinsam in den dritten Stock zu tragen.
Im Treppenhaus war es stockfinster. Vorsichtig tasteten sie sich voran, bis sich ihre Augen an das Dunkel gewöhnt hatten. Es roch intensiv nach Urin, Moder, Kohl und kaltem Fett.
»Immer schön nah an der Wand bleiben!«, warnte Liam Éanna, die mit dem Stuhl voranging.
»Ich weiß, dem Geländer ist nicht zu trauen!«, gab Éanna über die Schulter zurück und fügte in Gedanken hinzu: Und mit den Brettern der Stufen ist es nicht viel besser!
Schon am Sonntag bei ihrer Besichtigung der Wohnung hatte ihr das schmale Treppenhaus wenig Vertrauen eingeflößt. Beim Bau dieses Hauses schien man an allen Ecken und Kanten an solidem Material gespart zu haben. Der Handlauf und die Stützlatten des Gitters waren erschreckend dünn und an einigen Stellen sogar morsch und wackelig. Wer hier stolperte und mit Wucht gegen das Geländer fiel, würde es zweifellos durchschlagen, in den Schacht stürzen und sich unten alle Knochen brechen. Ab dem zweiten Stock dürfte so ein Sturz wohl tödlich ausgehen. Und das Knarzen und Ächzen der Bretter unter Éannas Füßen ließen ähnliche Gefahren befürchten. Doch sie bezweifelte, dass sich die Treppenhäuser der anderen Gebäude in Five Points wesentlich von diesem unterschieden. Und wenn Liam nicht übertrieben hatte, gehörte ihr Haus sogar noch zu den etwas besseren Mietskasernen in dieser Gegend.
Als im zweiten Stock eine Tür geöffnet wurde und das Licht einer Lampe ins Treppenhaus fiel, wagte Éanna, etwas beherzter aufzutreten. Jetzt erst sah sie die langen Bahnen von vergilbtem Zeitungspapier, mit denen man schadhafte Teile der Wände einfach überklebt hatte und die an manchen Stellen bereits von weißem Schimmel bedeckt waren.
Ihr Zwei-Zimmer-Apartment im dritten Stock lag rechts vom Treppenabsatz in einem engen Seitenkorridor. Die Tür klemmte, ließ sich aber mit einigem Druck öffnen und schließen.
Direkt dahinter befand sich der erste, etwas größere Raum mit dem Herd, dem Ofen und dem Fenster, der zwölf Fuß* im Quadrat maß. Er würde ihnen zugleich als Küche und Wohnraum dienen und hier sollte Emily nachts ihren Schlafplatz haben, wenn Tisch und Stühle zur Seite gerückt waren. Tagsüber musste ihre Matratze an die Wand gelehnt werden, damit sie sich in dem Raum einigermaßen gut bewegen konnten.
Über und neben dem Herd hatte man je drei tiefe Bretter zum Abstellen von Kochtöpfen, Geschirr, Besteck und Lebensmitteln angebracht. Eine Reihe Nägel neben der Tür diente als Garderobe.
Der zweite, fensterlose Raum, den Éanna sich nachts mit Brendan teilen würde, war erheblich kleiner, nämlich acht Fuß tief und zehn Fuß breit und damit gerade groß genug für zwei Matratzen. Eine Tür gab es für diesen Raum nicht, sondern nur einen offenen, fünf Fuß breiten und knapp kopfhohen Durchgang, der genau gegenüber der Herdstelle lag. Einen Teil der Wände bedeckten Reste von altem Kalk, der Rest war mehrfach mit Zeitungspapier überklebt worden.
Éanna stellte den Stuhl im ersten Zimmer ab und blickte in das kahle dunkle Loch, wo Brendan und sie von nun an ihren Schlafplatz haben würden. Zwei Eisenhaken links und rechts des Durchgangs, auf denen eine Holzstange lag, verrieten, dass hier einmal ein Vorhang als Sichtschutz gedient hatte. Sie nahm an, dass Brendan schon bald darauf drängen würde, ebenfalls einen solchen hier aufzuhängen. Beklommen betrat sie den winzigen Raum.
Als Brendan Augenblicke später mit Liam den Tisch hereintrug und ihren Gesichtsausdruck sah, lachte er, stellte den Tisch schnell ab und legte seine Arme um Éanna.
»Mein Gott, was machst du denn für ein Gesicht? Ich weiß, noch sieht es hier reichlich kahl und ungemütlich aus. Aber das kriegen wir schon hin!«, versicherte er mit fröhlicher Zuversicht. »Es wird schon ganz anders aussehen, wenn all die neuen Sachen, die jetzt noch unten im Wagen liegen, erst einmal hier oben sind. Und sobald wir wieder etwas Geld übrig haben, kaufen wir noch ein paar nette Kleinigkeiten und machen daraus eine richtig gemütliche Wohnung, in der wir uns wohlfühlen
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