Éanna - Ein neuer Anfang
hören.
Brendan lächelte. Dann schob er sich ganz nah zu Éanna heran und strich ihr zärtlich mit der Hand über das Gesicht. »Jetzt fängt das Leben hier für uns erst richtig an, mein Schatz«, flüsterte er. »Freust du dich auch, dass wir nun endlich ein eigenes Zuhause haben?«
Éanna spürte, wie heftig ihr das Herz in der Brust schlug. »Ich wünschte nur, es hätte nicht ausgerechnet Five Points sein müssen. Und im Logierhaus hat es mir auch nicht schlecht gefallen«, gab sie leise zurück.
»Das ist aber doch etwas ganz anderes … eben nichts Eigenes. Und wenn ihr beide, Emily und du, erst einmal eine besser bezahlte Arbeit gefunden habt, dann können wir bestimmt auch in ein anderes Viertel umziehen. Aber das Wichtigste ist doch, dass wir uns haben. Ist es nicht so?«
»Ja, Brendan«, entgegnete sie und dann spürte sie seinen warmen Mund auf ihren Lippen.
Sie erwiderte seinen Kuss und vergaß für einige Momente ihre Ängste. Es war schön, ihm so nahe zu sein und zu fühlen, wie sehr er sie liebte. Sein Mund wanderte leicht über ihre geschlossenen Augen, die Wangen und den Hals hinab.
Éanna erstarrte. Plötzlich sah sie Caitlins Gesicht wieder vor sich, das hämische Grinsen, den abfälligen Blick, damals im Zwischendeck der Boston Glory . Und sie erinnerte sich auch an ihre Worte, an die böse Prophezeiung, sie, die Unschuld vom Lande, werde Brendan nicht bei sich halten können. Mit aller Kraft versuchte Éanna, die Gedanken wieder von sich zu schieben, aber es gelang ihr nicht.
Brendan, der ihre Unsicherheit spürte, hielt inne, blickte ihr aufmerksam ins Gesicht und stützte sich dann auf dem Ellbogen auf. »Was ist denn los, mein Liebling? Stimmt etwas nicht?«
Éanna schüttelte stumm den Kopf. Sie liebte Brendan von ganzem Herzen und doch hatte sie auf einmal einen Kloß im Hals und musste schlucken. »Ich … ich weiß nicht, Brendan. Ich musste auf einmal wieder an diese letzte Begegnung mit Caitlin auf dem Schiff denken und …«, sie suchte nach den richtigen Worten, »na ja, Caitlin hat damals etwas gesagt, was ich einfach nicht vergessen kann.«
Ruhig sah Brendan sie an und strich ihr eine wirre Haarsträhne aus der Stirn. »Sie hat gesagt, dass du etwas anderes brauchst, als ich dir geben kann, dass du … vielleicht mehr willst als ich.« Éanna spürte, dass ihr Gesicht glühte. Schnell sprach sie weiter: »Und ich habe Angst, dass sie recht hatte. Dass es dir so, wie es im Moment zwischen uns beiden ist, nicht reicht. Weißt du, ich will das ja auch, Brendan. Ich will es wirklich. Nur noch nicht jetzt. Nicht … so.«
Zärtlich blickte Brendan sie an. Dann lachte er, nahm sie fest in die Arme und vergrub den Kopf in ihren Haaren. »Ach Éanna«, flüsterte er ihr ins Ohr, »was machst du dir nur für dumme Gedanken!« Er zögerte, schien sich zu besinnen. »Unser gemeinsames Leben hat doch erst angefangen.«
Éanna war plötzlich ganz leicht zumute. Erst jetzt merkte sie, wie sehr Caitlins Worte sie in der letzten Zeit verunsichert und belastet hatten. Sie lächelte Brendan an. Und als er sich nun vorbeugte und sie erneut küsste, waren ihre Gedanken ganz bei ihm.
Elftes Kapitel
In den folgenden Tagen lebten sich Éanna, Brendan und Emily in Five Points ein und machten sich mit ihrer neuen Umgebung vertraut. Schnell lernten sie die Eigenheiten des Viertels kennen. Und nicht nur Éanna dachte in diesen Tagen immer wieder wehmütig an ihr kleines Zimmer im Emerald Isle zurück.
Woran sich alle drei am wenigsten gewöhnen konnten, war der Lärm, der ständig auf den Straßen vor ihrem Haus, im Treppenaufgang und in den benachbarten Mietskasernen herrschte. Denn nicht einmal nachts kehrte hier auch nur für einige Minuten Ruhe ein. Ganz gleich zu welcher Tages- oder Nachtstunde – immer waren die lauten Stimmen von Männern und Frauen zu hören, die sich stritten, die betrunken und grölend die Treppen hochstolperten, die mit ihren Kindern schimpften oder sie verprügelten. Das Geschrei eines kranken Babys, das Weinen einer alten Frau, Gelächter, Gesang, rasselnde Hustenanfälle, Zurufe auf den Korridoren, das Schlagen von Türen und das Scheppern von Blecheimern und was es sonst noch an Geräuschen gab, die gut fünfzig Mieter auf engstem Raum Tag und Nacht verursachen konnten, das alles drang durch die dünnen Wände und sorgte für einen beständigen Geräuschpegel in ihrer kleinen Wohnung.
Und wenn es auf den Straßen von Five Points schon tagsüber betriebsam
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