Éanna - Ein neuer Anfang
allerlei Gesindel in das Viertel gekommen waren.
Sie alle hatten aus Five Points das gemacht, was es nun schon seit Jahren war: das übelste und dreckigste Viertel in der dreckigsten Stadt der Welt, glaubte man den verschiedensten Zeitungen in der Empire City und den Berichten manch weit gereister Besucher.
Das Mietshaus, das auf halbem Weg zwischen Mulberry und Mott Street lag und ihr neues Zuhause werden sollte, war ein fünfstöckiger Backsteinbau und sah so heruntergekommen aus wie all die anderen schäbigen Mietskasernen in dieser Straße.
Éanna seufzte unwillkürlich, als ihr Blick an der rissigen Fassade hinauf zum dritten Stockwerk wanderte, wo ihre winzige Wohnung lag. Wenn sie sich doch nur in einer etwas besseren Gegend eine Unterkunft hätten leisten können als ausgerechnet hier in Five Points!
Sie tröstete sich mit dem Gedanken, dass zumindest das größere der beiden Zimmer, in dem der Herd und der schmale Ofen standen, ein Fenster hatte. Und dass dieses Fenster nach vorn zur Straße hinausging und nicht nach hinten auf den dunklen, engen und stinkenden Hinterhof führte, wo sich der Abort befand. Dieser bestand aus zwei Verschlägen über einer Sickergrube, die sich die rund fünfzig Bewohner des Hauses teilen mussten. Zwei schmale Reihen Bretter führten von der Hintertür des Mietshauses bis hin zu diesen Verschlägen; wer nach einem heftigen Regen auf den feuchten Brettern abrutschte, versank bis über die Knöchel in einem Morast aus Dreck und Abfall.
Aber auch wenn man Glück hatte und auf den morschen Brettern blieb, war noch nicht garantiert, dass man seine Schuhe einigermaßen sauber halten konnte. Schon gar nicht bei Nacht. Deshalb hatte Éanna auf dem Markt auch darauf bestanden, dass sie die beiden Nachttöpfe kauften.
Vor dem Nachbarhaus versperrte ihnen eine Menschentraube den Weg. Etwa zwanzig Leute hatten sich vor dem Hauseingang im Halbkreis um einen kleinwüchsigen, aber stämmigen, gut gekleideten Mann versammelt, der einen schwarzen Zylinder auf dem Kopf trug und von zwei breitschultrigen, muskulösen Burschen mit Prügeln in den Händen und grimmigen Mienen flankiert wurde. Erregte Stimmen und halblaute Verwünschungen drangen ihnen aus der Menge entgegen, als Éanna, Emily, Brendan und Liam näher kamen.
»Verdammter Blutsauger!«
»Die Pest und Krätze über diesen Beutelschneider! Lynchen sollte man den Hund!«
»Nicht einmal mit einer Witwe, die ihre zwei kleinen Kinder allein durchbringen muss, hat der Lump Mitleid!«
»Kein Wunder, dass er sich nur mit seiner Schlägertruppe zu uns wagt!«
Als sie mit ihrem Leiterwagen auf die Straße auswichen, erhaschte Éanna einen Blick durch die Menge auf eine hagere verhärmte Frau mit bleichem Gesicht, an deren Rockschöße sich zwei kleine weinende Mädchen klammerten. Das eine mochte vier, das andere nicht älter als sechs Jahre alt sein. Die Frau gab nicht einen Ton von sich. Wie erstarrt stand sie neben dem Hauseingang, vor ihr lagen ein paar Habseligkeiten und Bündel, die zwei bullige Männer mit Schlagstöcken an den breiten Ledergürteln gerade durchwühlten.
»Was geht da vor sich?«, wandte sich Emily an Liam.
»Der Mann mit dem Zylinder ist Mister O’Grady, der Agent des Hausbesitzers und zugleich auch der Mieteintreiber. Ihr werdet ihn noch persönlich kennenlernen, denn er ist auch für unser Mietshaus zuständig. Es scheint ganz so, als schmeiße er da gerade mit seinen vier Prügelknaben die Witwe Malone aus der Wohnung, weil sie seit zwei Wochen mit der Miete im Rückstand ist«, raunte Liam ihnen zu. »Ihr Mann hat sich vor einem Monat zu Tode gesoffen. Aber das kümmert O’Grady nicht. Wer nicht zahlt, wird vor die Tür gesetzt. Da fackelt er nicht lange. Und was seinen Männern dabei in die Hände fällt, kassiert er noch zusätzlich ein und macht es zu Geld. Da, seht, sie nehmen ihr den Wandspiegel und die bemalte Truhe ab!«
Brendan lachte bitter auf. »Hier geht es auch nicht besser zu als in Irland, wo man uns die Kate über dem Kopf eingerissen und uns wie räudige Hunde von unserem Stück Land vertrieben hat!«, murmelte er.
Éanna und Emily tauschten einen betroffenen Blick und dachten beide dasselbe: Das durfte ihnen nicht passieren! Von nun an mussten sie streng darauf achten, immer erst das Geld für die fällige Wochenmiete beiseitezulegen, bevor sie auch nur einen Cent für irgendetwas anderes ausgaben.
Sie beeilten sich, auf die andere Seite der Menge und zum Eingang ihres Mietshauses
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