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Éanna - Ein neuer Anfang

Éanna - Ein neuer Anfang

Titel: Éanna - Ein neuer Anfang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leonie Britt Harper
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zuging, so war dies doch nichts gegen das lärmende und dichte Treiben, das bei Einbruch der Dunkelheit in diesem Viertel einsetzte, wenn die Männer von der Arbeit nach Hause kamen und einen Großteil ihres Lohns in den zahllosen Tavernen, Rumschenken, Spielkellern und Freudenhäusern verprassten.
    In diesen Stunden traf man auf viele blutjunge, aber auch auf einige alte, abgetakelte Straßendirnen und ihre aufdringlichen Zuhälter, die vor den Schankstuben nach Freiern Ausschau hielten. Auch Taschendiebe und anderes Gesindel trieben sich dann hier herum, um angetrunkene Arbeiter, wenn sie eines der zahlreichen Wirtshäuser verließen, in einer Seitengasse abzufangen und ihnen ihren letzten Cent zu rauben.
    Der Abend gehörte aber auch den Kellerratten – den Menschen ohne festen Wohnsitz, die eine Nacht lang für zwei oder drei Cent in einem der mit endlosen Reihen von Stockbetten vollgestellten Keller eines Mietshauses unterkamen. Sie blieben so lange wie eben möglich im Freien, bevor sie sich hinunter in die finstere, stinkende Enge dieser elendigen Massenquartiere begaben, und wurden meist von den anderen Bewohnern des Viertels gemieden. Viel tiefer konnte man in New York nicht mehr sinken: Wer morgens als Kellerratte die Treppe heraufkam und ins Licht des neuen Tages trat, wusste zumeist nicht, ob ihn an diesem Tag nicht endgültig ein Leben in der Gosse erwartete oder ob er bei Einbruch der Nacht doch wieder die wenigen Münzen für ein Kellerquartier aufbringen konnte.
    In diesen Tagen erfuhren Éanna und Emily auch, was es mit dem mysteriösen Schneesammeln auf sich hatte: Viele Bewohner der oberen Stockwerke hatten es sich in den Mietshäusern von Five Points zur schlechten Angewohnheit gemacht, ihre Nachttöpfe im Schutz der Dunkelheit einfach aus dem Fenster hinunter auf die Straße oder den Hinterhof zu leeren, um sich den mühsamen Weg zum Abort zu ersparen. Wer nach hinten hinaus wohnte, tat deshalb gut daran, vor Einbruch der Nacht seine Wäsche von den Stangen und Leinen vor den Fenstern zu nehmen. Häufig wurden die noch feuchten Kleider, Handtücher und Bettlaken dann zum Trocknen auf den Flachdächern der Häuser aufgehängt – was immer wieder minderjährige Jungen und Mädchen anlockte, die völlig auf sich allein gestellt waren oder von ihren Not leidenden Eltern dazu angestiftet wurden, die fremde Wäsche zu stehlen. Deshalb musste diese stets gut bewacht werden. Da aber meist nur alte Menschen und Kinder für diese Aufgaben infrage kamen, auf die am nächsten Morgen keine anstrengende Arbeit in der Fabrik oder im Hafen wartete, geschah es nur allzu oft, dass mitten in der Nacht plötzlich lautes Geschrei ertönte. Dann war die Wache eingeschlafen und erst wieder wach geworden, als die Diebe schon mit ihrer Beute davonliefen. War der »Schnee« erst einmal von den Leinen gerissen, blieb eine Verfolgung über die Dächer und durch die Treppenhäuser des Viertels zumeist erfolglos. Denn ein Großteil der Häuser in Five Points war durch Keller und unterirdische Gänge miteinander verbunden, und in diesem finsteren Labyrinth einen flinken jungen Dieb zu stellen, gelang nur in den seltensten Fällen. Bereits wenige Minuten nach dem Diebstahl landete die Beute gewöhnlich bei einem der vielen Händler für gebrauchte Kleidung und Bettwäsche am Chatham Square oder anderswo in New York, die sich hüteten, den jungen Verkäufern unangenehme Fragen zu stellen.
    Eine weitere neue Erfahrung stellte für Éanna und Emily der wöchentliche Einkauf von Kohle, Anmachholz, Lampenöl und Lebensmitteln in einer der zahlreichen Groceries von Five Points dar. In diesen Geschäften ging es häufig kaum besser zu als in den Tavernen und Groggeries, den Rum- und Ginschenken im Viertel, wo man ein Glas billigen Alkohol schon für ein oder zwei Cent bekam.
    Ein erstes einschneidendes Erlebnis dieser Art hatten die beiden Mädchen bereits wenige Tage nach ihrem Einzug in der Cross Street, als sie sich auf Liams Empfehlung hin auf die Suche nach einer solchen Grocery machten, um ihre kargen Lebensmittelvorräte aufzufüllen.
    »Ob wir hier wirklich richtig sind?«, fragte Éanna skeptisch, als Emily und sie vor drei ausgetretenen Steinstufen standen, die hinunter zu einer dunklen Kelleröffnung führten. Kisten, Tonnen und Stapel von Weidenkörben türmten sich zu beiden Seiten des Eingangs und ließen nur einen schmalen Durchgang frei.
    Ihre Freundin zuckte die Achseln und deutete auf das verwitterte Holzschild

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