Éanna - Ein neuer Anfang
diesen einen Treck geben! Auch im übernächsten Jahr werden bestimmt wieder Siedler nach Westen ziehen, um sich dort niederzulassen, und genauso im Jahr danach! Warum sollten wir denn nicht eines Tages dazugehören?«
Er schwieg einen Moment und schien ernsthaft über ihre Worte nachzudenken. »Na ja, wenn wir das Geld dafür hätten, würde ich es natürlich schon ausprobieren und im April mit dem Treck losziehen. Vorausgesetzt, das stimmt alles auch so, wie es in der Anzeige steht.«
»Siehst du!« Éanna lächelte.
»Und wer weiß, vielleicht kommen wir deinem Traum ja wirklich bald ein ganzes Stück näher«, sagte er langsam. »Vielleicht können wir in wenigen Wochen schon wieder damit beginnen, etwas Geld zur Seite zu legen. Wenn das gelingt, was Liam und ich in der letzten Woche zu tun beschlossen haben.«
»Was habt ihr denn beschlossen?«, fragte Éanna gespannt.
»Wir wollen zu den Großen Seen aufbrechen!«, teilte er ihr strahlend mit. »In die Gegend um Chicago.«
Augenblicklich sank Éanna das Herz. Sie wusste zwar nicht genau, wo die Großen Seen und Chicago lagen, aber dass es bis dahin ein weiter und gefährlicher Weg war, war ihr klar. »Aber warum denn, Brendan?«
»Da oben sollen sie gerade händeringend nach Arbeitern für den Eisenbahnbau suchen«, erklärte er. »Sie planen eine neue Strecke, ich glaube, nach St. Louis im Süden, und dafür müssen riesige Erdmassen abgetragen, Schwellen und Schienen verlegt und was weiß ich welche Arbeiten sonst noch erledigt werden. Und um diese Knochenarbeit scheinen sich die Leute im Herbst und Winter nicht gerade zu reißen. Darum haben die verschiedenen Bauunternehmen Männer losgeschickt, die Arbeiter für die Camps entlang der Strecke anwerben sollen. Liam und ich haben vor ein paar Tagen einen von ihnen getroffen und gleich unterschrieben. Éanna, das ist ein Glücksfall, sie zahlen uns einen Dollar und zwanzig Cent am Tag!« Stolz schwang in seiner Stimme mit. Denn das war selbst für New Yorker Verhältnisse ein hoher Lohn für einen gewöhnlichen Arbeiter.
»Das … das ist natürlich viel Geld«, räumte Éanna widerstrebend ein. Sie konnte sich nicht so über Brendans Neuigkeit freuen, wie er es zu erwarten schien. »Aber warum hast du denn nicht bis heute gewartet und erst einmal mit mir darüber gesprochen, Brendan?«
»Na hast du das denn getan, als du bei den Harringtons in Stellung gegangen bist?«
Der Hieb saß. Éanna schluckte.
»Außerdem war dafür gar keine Zeit«, fuhr er fort. »Wir mussten uns sofort entscheiden, später wäre die Liste sicher schon voll gewesen. Liam und ich waren froh, dass wir überhaupt davon erfahren haben.«
»Was sagt denn Emily dazu?«
Brendan zuckte die Achseln. »Was soll sie schon dazu sagen? Hier gibt es keine Arbeit für uns. Und da müssen wir eben dahin gehen, wo es welche gibt.«
»Und wie lange werdet ihr weg sein?«
Wieder hob er die Schultern. »Keine Ahnung. Bei dem Lohn natürlich so lange wie möglich. Ich denke, zwei bis drei Monate könnten es schon werden. Und gleich morgen geht es los. Wir haben schon die Tickets für die Reise zu unserem ersten Eisenbahncamp in der Tasche.«
»Ach, Brendan!«
»Was machst du denn jetzt für ein Gesicht? Freu dich doch, dass wir endlich eine gut bezahlte Arbeit gefunden haben! So eine Gelegenheit bekommen Liam und ich vielleicht nie wieder!«
»Natürlich freue ich mich für euch. Aber müsst ihr denn gleich morgen aufbrechen und dann auch noch für so lange Zeit?«
»Was macht das denn für einen Unterschied, ob ich hier in New York oder irgendwo zwischen Chicago und St. Louis in einem Camp bin?«, fragte er bitter zurück. »Bei den paar Stunden, die wir uns nur jeden zweiten Sonntag sehen können, keinen allzu großen, wenn du meine Meinung dazu hören willst.«
Diese Worte schmerzten Éanna noch mehr als sein Vorwurf, sich nicht mit ihm abgesprochen zu haben, bevor sie die Anstellung bei den Harringtons annahm.
Brendan, der merkte, wie hart seine letzte Bemerkung geklungen hatte, beugte sich nun über den Tisch und nahm Éannas Hände behutsam in seine. »Außerdem ist es auch für unsere gemeinsame Zukunft wichtig, dass ich möglichst lange bei der Eisenbahn arbeiten kann«, erklärte er mit dem schiefen Lächeln, das sie so an ihm liebte. »Wenn ich sparsam bin, kann ich vielleicht mit hundert oder sogar hundertzwanzig Dollar aus den Camps zurückkommen und mit der Erfahrung, die ich dann haben werde, hier in New York ähnliche
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