Éanna - Ein neuer Anfang
dagegen, dass Ihr mich so nennt.«
»Gottes Segen für deine Hilfe, Éanna Sullivan.«
Und so lernte Éanna die achtundsechzigjährige Eleanor Cox kennen, die sie von diesem Tag an jeden Sonntag vor der Messe in ihrer winzigen, aber stets ordentlichen Wohnung abholte und sie später dorthin zurückbegleitete.
Bald wurde es den beiden sogar zur Gewohnheit, dass Éanna Eleanor an ihren freien halben Tagen für eine gute Stunde besuchte, wenn Emily keine Zeit hatte, sich schon am frühen Nachmittag mit ihr zu treffen. Sie half der alten Frau dann bei der Hausarbeit und erledigte die Einkäufe für sie.
Dabei erfuhr Éanna, dass Eleanor die Witwe eines Buchhalters war, der bei einem Schiffsausrüster angestellt gewesen und schon vor mehr als einem Jahrzehnt verstorben war, und dass sie ausschließlich von ihren bescheidenen Ersparnissen lebte. Ganz selten einmal schickte ihr Sohn James, ein eingefleischter Junggeselle, ein wenig Geld aus Boston, noch viel seltener kam er zu Besuch. James arbeitete als Seemann auf einem Küstendampfer der New England Steamship Company namens Lady Lennox, die vor allem die Route Boston–Maine befuhr und hauptsächlich Holz transportierte. Wenige Tage vor Weihnachten lernte Éanna ihn kennen – James Cox war ein grobschlächtiger und verschlossener Mann, der wenig sagte und schon bald wieder nach Boston aufbrach.
»Eine Frau in meinem Alter braucht ja nicht mehr viel, schon gar nicht zum Essen, mein Kind«, sagte Eleanor auf ihre ruhige, unbeschwerte Art, als Éanna sie wieder einmal fragte, was sie ihr an Lebensmitteln besorgen sollte. »Wenn es für die Kohlen und das Lampenöl, für etwas Suppe und Brot bis an mein Ende reicht, habe ich keinen Grund, unzufrieden zu sein. Und oft wärmen und nähren ein freundliches Wort und ein geduldiges Ohr für die langweiligen Geschichten einer alten Frau mehr als das beste Feuer und ein reich gedeckter Tisch!« Damit zwinkerte sie Éanna dankbar zu und gab ihr eine kurze Liste der Dinge, die in ihrem Haushalt zur Neige gingen.
Nach ihrem Besuch bei Eleanor schlug Éanna an den freien Sonntagen meist den Weg zu Emily in die Franklin Street ein. Die Freundin wohnte, solange Liam und Brendan nicht in New York waren, zur Untermiete bei einer Familie namens Schauermann in einem kleinen, aber gemütlich eingerichteten Zimmer.
Emily unterbrach dann ihre Näharbeit, setzte Tee auf und die beiden Mädchen berichteten einander von den Erlebnissen der letzten Woche, machten sich gegenseitig Mut und malten sich aus, wie es Brendan und Liam wohl gerade gehen mochte, von denen sie noch kein einziges Lebenszeichen erhalten hatten.
An einem dieser Nachmittage zeigte Éanna der Freundin auch das Zeitungsinserat, das sie noch immer hütete wie einen Schatz, und erzählte ihr von dem Wunsch, an solch einem Wagentreck teilzunehmen, sowie Brendan und sie genug Geld zusammengespart hatten. Emily war sofort begeistert von dieser Idee. Doch als sie hörte, wie viel Geld man für solch ein Abenteuer benötigte, schwieg sie bedrückt. Sie hatte keine so gute Arbeit wie Éanna und so würde es vermutlich viele Jahre länger dauern, bis auch Liam und sie in den Westen aufbrechen konnten. Éanna ahnte, was in der Freundin vorging.
»Wir bleiben natürlich zusammen, Emily! Ich breche erst dann in den Westen auf, wenn du mitkommen kannst. Und dann werden wir beide Hof an Hof siedeln und unsere Kinder werden die besten Freunde, genau wie wir!«
Emilys Augen glänzten bei Éannas Worten. Bis zum späten Abend redeten und diskutierten die beiden über den geplanten Siedlertreck, über den Ort, an dem sie sich später niederlassen und das Land, das sie bewirtschaften wollten. Und darüber, wie es wohl wäre, eine Familie zu gründen. Der Gedanke daran war neu für Éanna. Es fühlte sich seltsam fremd und unwirklich an, über ein eigenes Haus, über Heirat und Kinder zu sprechen, und doch war es zugleich aufregend, mit der besten Freundin herumzufantasieren.
Eleanor schien zu merken, was in Éanna vorging. Und da sie praktisch dachte, machte sie ihrer jungen Freundin eines Sonntagnachmittags einen überraschenden Vorschlag: »Was hältst du davon, deinen Lohn nicht in der Kammer unter der Matratze oder sonst wo zu verstecken, mein Kind, sondern ihn auf ein Sparkonto einzuzahlen? Über kurz oder lang wirst du sicher mit deinem Brendan alleine wohnen wollen, wenn er wieder hier ist. Und wer weiß, wofür ihr das Geld sonst noch gebrauchen könnt. Auf der Bank ist es
Weitere Kostenlose Bücher