Éanna - Ein neuer Anfang
hoffen konnte, dass es den scharfen Augen von Miss Forsyth und der gnädigen Frau entging.
Wenn sie dann um zehn oder elf Uhr abends todmüde in ihre Kammer kam, waren ihre Füße bleischwer und es dauerte keine fünf Minuten, bis sie erschöpft eingeschlafen war. Sich zu entkleiden und zu waschen stellte in den ersten Wochen eine Anstrengung dar, die Éannas ganze Willenskraft erforderte. Und ähnliche Überwindung kostete es sie, sich am Sonntag in aller Herrgottsfrühe aufzuraffen und die Messe zu besuchen. Viel lieber hätte sie diese anderthalb Stunden im Bett verbracht.
Doch andererseits freute sie sich natürlich an diesen Tagen jedes Mal, Brendan wiederzusehen. Und da sie die einzige Irin und Katholikin im Haus der Harringtons war und das andere Dienstpersonal der anglikanischen Kirche angehörte, störten sie bei diesen Treffen keine neugierigen Augen und Ohren. Aber sie hatten dennoch wenig Zeit, in Ruhe miteinander zu sprechen. Denn Éanna musste nach dem Gottesdienst unverzüglich den kurzen Heimweg antreten. Brendan war weniger denn je von ihrer neuen Arbeitsstelle angetan.
»Diese wenigen lausigen Minuten sind also alles, was wir von nun an miteinander haben!«, stellte er am ersten Sonntag nach ihrer Anstellung bei den Harringtons fest, als er nach der Messe missmutig neben ihr herlief.
»Nächste Woche habe ich meinen ersten halben Sonntag frei«, erinnerte Éanna ihn mit einem Lächeln.
»Ach so. Dann habe ich also jetzt eine hübsch lange Woche vor mir, in der ich mich so richtig auf einen kümmerlichen halben Tag mit dir freuen kann, um dich dann wieder zwei Wochen lang praktisch überhaupt nicht zu sehen, ja?«, entgegnete er mit bitterem Vorwurf in der Stimme.
»Ja, Brendan. Ich hoffe zumindest, dass du das tust, genauso wie ich«, sagte Éanna ernst und gab ihm dann die drei Dollar, die sie Missis Harrington am Tag zuvor als Vorschuss hatte abgewinnen können. »Hier ist das erste Geld für euch. Bitte gib Emily davon einen Dollar, damit sie wieder als Näherin anfangen kann. Sag ihr, sie soll das Garn wieder in dem Laden anschreiben lassen, wo man uns kennt. Am Monatsende werde ich dann alles auslösen. Und der Rest reicht bestimmt, damit ihr euch ein etwas besseres Quartier suchen könnt. Und jetzt erzähl mir, wie eure Woche gewesen ist.«
Brummelnd bedankte sich Brendan und steckte das Geld ein. »Na, wie soll sie schon gewesen sein. Zweimal haben Liam und ich unten an den Docks Kohlen geschaufelt. Morgen wollen wir mal unser Glück als Straßenfeger versuchen.«
»Das ist eine gute Idee!«, ermunterte Éanna ihn. »Diese Feger stehen doch überall an den belebten Straßenkreuzungen herum. Sie sollen gar kein schlechtes Trinkgeld dafür bekommen, dass sie den Leuten den Dreck aus dem Weg fegen.«
»Kann schon sein. Aber diese Burschen sind organisiert, fast so gut wie die Zeitungsjungen. Sie werden es uns nicht leicht machen, wenn wir plötzlich auftauchen, und die guten Reviere wahrscheinlich mit Händen und Füßen gegen uns verteidigen.«
Éanna hakte sich bei ihm unter. »Das schafft ihr schon! Ihr werdet euch euer Revier schon erkämpfen, da bin ich mir ganz sicher, Brendan!«
Er lachte trocken auf. »Erkämpfen dürfte dafür das richtige Wort sein.«
Nur wenige Augenblicke später standen sie bereits vor dem Herrenhaus der Harringtons. Sie umarmten sich, Brendan gab Éanna einen raschen Kuss und dann mussten sie sich auch schon wieder für eine weitere Woche trennen.
Am nächsten Sonntag trafen sie sich nach der Frühmesse mit Emily und Liam. Emily dankte der Freundin für das Geld und berichtete freudestrahlend, dass sie seit einigen Tagen wieder Hemden zusammennähte, allerdings nicht für die Karrigans, sondern für einen anderen Kleiderfabrikanten.
Brendan und Liam hatten weniger gute Nachrichten. Ihre Versuche, als Straßenfeger etwas Geld zu verdienen, waren bisher wenig erfolgreich gewesen. Auf den belebten Kreuzungen hatten die anderen Straßenfeger sie sofort angegriffen, als sie die Konkurrenz bemerkten. Es war zu mehreren Prügeleien gekommen und stets hatten Brendan und Liam keine Chance gegen die zu Banden organisierten Jungen gehabt, die einander schnell zu Hilfe gekommen waren. Und dort, wo sie keinem der alteingesessenen Feger seinen Stammplatz streitig gemacht hatten, war der Verdienst entsprechend gering gewesen. Aber immerhin war doch zusammen mit Éannas Gehalt genug Geld zusammengekommen, um in der nächsten Woche die Miete und alle anderen
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