Éanna - Ein neuer Anfang
Arbeit finden. Und dann haben wir zusammen mit deinem Lohn eine ganz ansehnliche Menge Geld und können diese Sache mit dem Treck ernsthaft ins Auge fassen.«
Éanna hatte nicht vor, die wenigen Stunden, die ihnen noch blieben, traurig und verbittert zu verbringen. Aber es kostete sie viel Kraft, Brendan möglichst wenig zu zeigen, wie schwer es ihr fiel, dass er einige Monate lang so weit weg von ihr sein würde.
Auch Emily wirkte traurig, als die vier sich später trafen. Und als schließlich der Moment gekommen war, sich auf ungewisse Zeit voneinander zu verabschieden, gelang es Éanna nicht mehr, die Tränen zurückzuhalten.
»Versprich mir, dass du mir schreibst!« Sie umarmte Brendan voller Verzweiflung.
»Du weißt doch, dass ich es nicht so mit dem Schreiben habe. Aber ich werde es versuchen, das verspreche ich dir!«
Eine letzte Umarmung, ein letzter Kuss, ein letztes Winken im Davoneilen und dann hatte die regnerische Nacht Brendan und Liam auch schon verschluckt.
Dreiundzwanzigstes Kapitel
Als sie am folgenden Sonntag in der Kirchenbank kniete, fühlte Éanna sich so verlassen wie in der Zeit, als sie nach dem Tod ihrer Mutter – zum ersten Mal in ihrem Leben völlig auf sich allein gestellt – ziel- und mittellos durch Irland geirrt war.
Dass die Monate verstreichen, Brendan in absehbarer Zeit zu ihr zurückkehren und sie dann ihrem Traum vom eigenen Land einen großen Schritt näher sein würden, konnte sie in diesem Moment nicht trösten. Zusätzlich quälte Éanna die Frage, ob es richtig von ihr gewesen war, Patricks Hilfe anzunehmen und sich um die Anstellung bei den Harringtons zu bemühen. Hätte sie sich damals anders entschieden, wäre sie nun an der Seite von Brendan auf dem Weg nach Chicago, statt Tag für Tag als Dienstmädchen zu schuften!
Doch dann rief sie sich selbst energisch zur Vernunft. Nein, an ihrer Entscheidung durfte sie nicht zweifeln! Ihr Elend, die ausweglose Situation, in der sie sich alle befunden hatten, und die Aussicht auf den ersten harten Winter in New York, all das waren genug gute Gründe für sie gewesen, die Stelle bei den Harringtons anzutreten. Und hätte sie noch einmal die Wahl, würde sie sich sicher wieder so entscheiden!
Als Éanna nach der Messe ins Freie trat, war sie einen Moment lang wie geblendet von der Helligkeit. Der erste Schnee war gefallen und eine leuchtende weiße Decke hatte sich über die umstehenden Häuser gebreitet. Einen Augenblick lang glaubte sie, Patrick O’Briens dunklen Haarschopf plötzlich vor sich in der Menge zu sehen, die mit ihr aus der Kirche strömte. Doch gleich darauf war die gepflegte Gestalt in einer Seitenstraße verschwunden und Éanna lachte über das Hirngespinst. Wahrscheinlich hatte sie ihn einfach mit einem anderen Mann verwechselt!
Schon wollte sie sich zügigen Schrittes auf den Heimweg machen, als sie eine alte, hagere Frau bemerkte, die sich mit krummem Rücken auf einen zerkratzten Krückstock stützte und mit unsicheren kleinen Schritten langsam aus der Kirche trat. Den zögerlichen Bewegungen war anzusehen, wie groß die Angst der Frau war, auf der dünnen Schneeschicht auszurutschen und zu stürzen.
Sofort lief Éanna zu ihr hinüber. »Kann ich Euch helfen, Ma’am? Verzeiht, aber Ihr macht den Eindruck, als könntet Ihr bei dem Wetter eine stützende Hand gebrauchen.«
Die Frau, die altmodisch gekleidet war und ihre schlohweißen Haare zu einem sorgfältigen Kranz geflochten hatte, blickte Éanna überrascht aus aufmerksamen hellen Augen an. »Oh, einer so alten Frau wie mir ist nicht mehr zu helfen, mein liebes Kind. Das vermag allein der liebe Gott, indem er mich endlich zu sich ruft«, erwiderte sie mit seltsam froher, unbeschwerter Stimme. Ein Lächeln erhellte ihr faltenreiches Gesicht. »Aber bis es so weit ist, bin ich für jede irdische Hilfe von Herzen dankbar.«
»Dann begleite ich Euch gern nach Hause!« Éanna hakte sich bei der Frau unter, froh über die Ablenkung von ihren trübsinnigen Gedanken. Die paar Minuten würde man im Hause Harrington eben einmal auf sie warten müssen!
Die Angesprochene bedankte sich und nannte die Adresse ihrer Wohnung, die ganz in der Nähe lag. »Verrätst du mir auch deinen Namen, mein Kind?«, fragte sie dann. »Obwohl es wohl nicht recht ist, dich noch ›Kind‹ zu nennen, auch wenn es mir in meinem Alter so erscheinen mag. Ich hoffe, du siehst mir diese Ungezogenheit nach.«
»Ich heiße Éanna … Éanna Sullivan. Und ich habe nichts
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