Éanna - Ein neuer Anfang
notwendigen Ausgaben bezahlen zu können.
Am Nachmittag beschlossen die vier, ein letztes Mal nach Corlear’s Hook zu wandern, um dort in der Sonne zu liegen. Lange unterhielten sie sich über die Goldfunde in Kalifornien, die mittlerweile einen immer größeren Raum in allen New Yorker Zeitungen einnahmen.
»Die ersten Schiffe voller Goldsucher, die da drüben an der Westküste ihr Glück machen wollen, sind schon aus dem Hafen ausgelaufen«, erzählte Liam Éanna. »Unter ihnen sollen sich sogar Männer befinden, die in Banken, Kontoren und anderswo eine richtig gut bezahlte Arbeit hatten! Stellt euch das mal vor! Die haben alles stehen und liegen lassen, um auf das nächste Schiff zu springen, das um Kap Hoorn herum nach Kalifornien segelt. Für mich wäre so eine lange Schiffsreise nichts. Es heißt, man ist mehrere Monate unterwegs, bis man in der Bucht von San Francisco eintrifft – falls die Schiffe nicht vorher schon in den Stürmen am Kap untergehen!«
»Aber jetzt dort in diesem Sacramento-Tal zu sein und nach Gold zu schürfen, das wäre schon was!«, erwiderte Brendan. »Natürlich müsste man erst einmal das Geld für so eine lange Schiffspassage beisammenhaben.«
»Und die Preise unten an den Kais steigen täglich«, fügte Liam hinzu.
Éanna folgte der Unterhaltung nur mit halbem Ohr. Das ferne Gold Kaliforniens interessierte sie nicht. Stattdessen war sie dankbar für ihre gute Stellung und froh, dass Brendan trotz seiner Misserfolge als Straßenfeger ganz offensichtlich endlich wieder gute Laune hatte.
Mitte Oktober, als die Tage und vor allem die Nächte schon empfindlich kalt zu werden begannen, hatte sie sich im Haushalt der Harringtons völlig eingelebt und Sicherheit in allen Arbeiten erlangt, die von ihr verlangt wurden. Und wenn jeder Tag auch aufs Neue hart und ermüdend war, so hatte sich ihr Körper doch mittlerweile an den Rhythmus gewöhnt.
Manchmal, wenn sowohl die gnädige Frau als auch Miss Forsyth außer Haus waren und es eine ruhige Stunde für das Personal gab, saß Éanna mit Agnes und den anderen Dienstmädchen unten bei Amelia Simpson in der Küche bei einer Tasse schnell aufgebrühtem Tee zusammen. Dann ging es munter und lebhaft zu. Besonders Agnes und Amelia wussten immer viel zu erzählen. Man tauschte allerlei Klatsch aus, diskutierte, wo es die schönsten Kleider zu einem guten Preis gab, und zog sich gegenseitig mit den neuesten Verehrern auf, die die Mädchen an ihren freien Tagen in den Volkstheatern, den Tavernen und Tanzsalons auf der Bowery Street kennengelernt hatten.
Aber auch ernsthafte Themen und Probleme wurden besprochen: Ganz unverblümt informierte Amelia sie zum Beispiel eines Nachmittags darüber, an welche Engelmacherin man sich am besten bei einer ungewollten Schwangerschaft zu wenden hatte – ein Thema, das für viele der Mädchen nicht neu war, wie Éanna verblüfft feststellte. Es schien selbst in den besseren Kreisen völlig legal, eine Schwangerschaft durch Abtreibung zu beenden. Erst wenn man das sogenannte Quickening bei sich feststellte, also die ersten Bewegungen des Kindes im Mutterleib spürte, wurde die Abtreibung zu einem Verbrechen, für das man in Amerika mit einer harten Strafe rechnen musste. Doch auch wenn es erlaubt sein mochte, das Leben eines in sich heranwachsenden Kindes vorzeitig zu beenden, kam es Éanna wie ein schreckliches, nicht wiedergutzumachendes Verbrechen vor.
In den ersten Novembertagen stieß sie dann eines Morgens auf eine Zeitungsanzeige, deren Inhalt sie nicht mehr loslassen sollte. Éanna kniete gerade im Rauchsalon vor dem Kamin und hatte zum Schutz vor herabfallender Asche mehrere Blätter einer Zeitung aus der vergangenen Woche vor sich ausgebreitet, als ihr Blick auf eine fast halbseitige Anzeige fiel, die schwarz umrandet war. Millionen Morgen fruchtbares Land! war in großen, sichelförmig geschwungenen Lettern über einem fein gestochenen Stahlstich zu lesen, der eine weite Landschaft mit sanften baum- und buschbestandenen Hügelketten und einem breiten Flusslauf zeigte. Unter dem Bild stand in nicht weniger großen Buchstaben: Freies Land im Westen! In etwas kleinerer Schrift folgte die Ankündigung:
Der ehrenwerte Nathan J. Palmer, seines Zeichens anerkannter Landvermesser mehrerer Eisenbahngesellschaften und ein Mann der Tat, führt Mitte April 1849 von Independence, Missouri aus einen Treck mutiger Farmer und Pioniere an die Westküste! Ziel des Wagenzuges sind die freien Territorien im
Weitere Kostenlose Bücher