Éanna - Ein neuer Anfang
Liam hat fast genauso viel gespart. Na, was sagst du nun? Das hat sich doch wirklich gelohnt, oder? Und wenn diese Halsabschneider im Camp uns nicht gezwungen hätten, im Geschäft der Eisenbahngesellschaft einzukaufen, wären es jetzt sicher noch zehn Dollar mehr!«
Éanna war beeindruckt. Hundertachtzehn Dollar! Was für eine gewaltige Summe! Das war ja mehr, als sie in anderthalb Jahren an Lohn erhielt und auf die Bank tragen konnte.
Sie brannte darauf, ihm von ihrem Sparbuch zu erzählen, kam jedoch erst einmal nicht zu Wort. Denn Brendan war nicht zu halten. Auf dem Weg zu Kelly’s Cosy Kitchen berichtete er ihr von den Wochen seiner Abwesenheit: von der Arbeit an der Eisenbahnstrecke, den üblen Zuständen in den Camps und den Schlägereien, die es zwischen den einzelnen Arbeitskolonnen der Polen, Engländer, Iren und Deutschen immer wieder gegeben hatte. Und wie viele Zugpferde beim gnadenlosen Transport von Erde und Baumaterialien täglich entkräftet zusammengebrochen und vom Aufseher einfach auf der Stelle erschossen worden waren!
Éanna erschrak über Brendans lebhafte Schilderungen. Sie hatte nicht geahnt, wie hart und gewaltsam sein Leben in den letzten Monaten gewesen war, und es erschien ihr nun umso mehr wie ein Wunder, dass er gemeinsam mit Liam so lange durchgehalten hatte und heil nach New York zurückgekehrt war.
Als die erste Freude über ihr Wiedersehen schließlich verebbt war, Brendan bei Kelly’s allmählich zur Ruhe kam und Éanna Gelegenheit fand, mehr als nur ein erschrockenes »Um Gottes willen!« oder eine kurze Nachfrage von sich zu geben, sprach sie doch an, was sie in den letzten Monaten so bedrückt hatte.
»Warum habt ihr denn nie geschrieben?«, wollte sie wissen und bemühte sich, ihre Enttäuschung nicht ganz so deutlich zu zeigen, wie Emily und sie es sich eigentlich vorgenommen hatten. »Du hattest es mir doch fest versprochen!«
»Ich hatte dir versprochen, dass ich es versuchen würde!«, korrigierte Brendan sie rasch, als hätte er schon mit diesem Vorwurf gerechnet und sich bereits genau überlegt, wie er sich herausreden konnte.
»Was soll das denn heißen? Ihr habt doch bestimmt sonntags nicht arbeiten müssen, oder? Sag bloß, du hattest nicht genug Zeit, mir alle paar Wochen einen kurzen Brief zu schreiben?« Noch immer war Éanna entschlossen, ihm die Standpauke zu ersparen, die sie sich in Gedanken in den letzten Wochen so oft zurechtgelegt hatte. »Und erzähl mir jetzt nicht, dass du nicht schreiben kannst! Denn ich weiß genau, dass du dazu sehr wohl in der Lage bist!«
»Éanna, ich habe es nun mal nicht mit diesem gelehrten Zeugs!«, brummte er entnervt.
»Ich habe wirklich keine gelehrten Abhandlungen von dir erwartet, sondern einfach nur ein Lebenszeichen und ein paar liebe Worte. Die Nachricht, dass es dir gut geht, hätte mir völlig gereicht!« Nun war sie doch richtig verärgert. »Nur ein paar Zeilen, Brendan, und alles wäre in Ordnung gewesen.«
»So, in Ordnung! Na, da gibst du mir ja gleich das richtige Stichwort!«, brauste er auf und sein Gesicht nahm einen argwöhnischen Ausdruck an. »Vielleicht erzählst du mir jetzt einmal, was in meiner Abwesenheit hier passiert ist. Ich wüsste zum Beispiel zu gerne, warum dieser Lackaffe O’Brien vorhin vor dem Haus an der Straßenecke stand! Wird schon seinen Grund gehabt haben, warum er sich so schnell davongemacht hat, als er mich kommen sah, oder?«
»Gar nichts ist passiert!«, erwiderte sie erbost. »Ich habe einfach manchmal sonntags ein paar Stunden mit ihm verbracht! So wie man eben mit guten Freunden Zeit verbringt. Ich war froh, dass ich jemanden treffen konnte, den ich kannte und der mich ein bisschen von meiner Sorge um dich abgelenkt hat. Und dabei habe ich nichts getan, dessen ich mich schämen oder was ich dir beichten müsste!«
»Was du nicht sagst!«
»Und damit wir jetzt gleich ein für alle Mal in dieser Angelegenheit reinen Tisch machen, will ich dir etwas sagen, Brendan Flynn! Ich will nie wieder aus deinem Mund ein schlechtes Wort über Patrick O’Brien hören – weder Lackaffe noch Dandy noch aufgeblasener Pinsel oder sonst irgendetwas anderes Abfälliges!« Sie fauchte ihn wütend an, wie eine Katze, die ihre Krallen ausgefahren hatte und bereit zum Angriffssprung war. »Ich bin es nämlich leid, mir diese Beleidigungen weiter anzuhören. Patrick bedeutet mir viel, aber eben nur als ein guter und treuer Freund, das habe ich dir schon so oft erklärt. Er hat nicht nur
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