Éanna - Ein neuer Anfang
Mann ausgerechnet nach dir gefragt hat!«
Tief beunruhigt eilte Éanna nach unten. Miss Forsyth, die sich kein Wort des Gespräches zwischen der irischen Dienstmagd und dem vornehm aussehenden Herrn entgehen lassen wollte, folgte ihr dicht auf den Fersen.
Mister Gallagher war ein gut aussehender und dezent, aber teuer gekleideter schlanker Mann Mitte dreißig, der sich Éanna freundlich als Anwalt und Vertreter der Kanzlei Gallagher & Sons vorstellte.
»Ich darf wohl annehmen, dass ich es bei Euch mit Miss Éanna Sullivan aus Galway zu tun habe, richtig?«, erkundigte er sich mit förmlicher Höflichkeit.
»Ja, so viel steht einmal fest! Das hier ist das Zimmermädchen Éanna Sullivan!«, sagte die Haushälterin im scharfen Tonfall einer Anklägerin.
Éanna nickte nur beklommen.
»Nun, dann habe ich als Anwalt unserer Kanzlei, der die Testamentsvollstreckung von Missis Eleanor Cox obliegt, einerseits die traurige Pflicht, Euch mein Beileid auszusprechen, andererseits möchte ich Euch über den Geldbetrag in Kenntnis setzen, den Missis Cox Euch in ihrem Testament zugedacht hat«, erklärte Mister Gallagher umständlich. »Und das ist die doch recht beachtliche Summe von zweihundertfünfzig Dollar!«
Miss Forsyth zog scharf die Luft ein.
Ungläubig sah Éanna den Anwalt an. »So viel Geld? Aber das kann gar nicht sein. Sie war doch so eine arme Frau!« Nie hatte Eleanor Cox mehr als anderthalb Dollar in kleinen Münzen in ihrer Geldbörse gehabt, wenn sie Éanna Geld für ihre Einkäufe gegeben hatte. Und jetzt sollte sie ihr auf einmal zweihundertfünfzig Dollar vererbt haben? Und warum ihr, Éanna, warum nicht ihrem Sohn?
»Missis Cox war zwar äußerst sparsam, jedoch nicht arm«, stellte der Anwalt richtig, zog eine schmale Ledertasche unter seinem Arm hervor, klappte sie auf und brachte ein Holzkästchen mit Schreibutensilien, ein verschraubbares Tintenfass, einen Scheck und ein sehr offiziell wirkendes Schriftstück zum Vorschein. »Wenn Ihr jetzt so freundlich wärt, auf diesem Beleg den Empfang des Geldes zu bestätigen? Den Scheck könnt Ihr bei der Hausbank unserer Kanzlei jederzeit einlösen.«
»Mach dein Zeichen und ich beglaubige deine Unterschrift!«, schaltete sich Miss Forsyth, der es einen Augenblick lang die Sprache verschlagen hatte, erneut in das Gespräch ein und trat grimmig einen Schritt vor.
»Das ist nicht nötig, Miss Forsyth, denn ich kann sehr wohl schreiben!«, erwiderte Éanna, setzte ihre Unterschrift unter die Empfangsbestätigung und nahm wie in Trance den Scheck von Mister Gallagher entgegen.
Dieser räumte seine Sachen rasch wieder zusammen, wünschte den beiden Damen noch einen guten Tag und ließ sich dann von der Haushälterin zur Tür bringen.
Als diese zurückkam, war ihren Worten deutlich anzumerken, was sie von dem Vorfall hielt, dessen Zeugin sie gerade geworden war: »So, jetzt hältst du dich wohl für reich, was? Und sicher willst du auf der Stelle kündigen, nicht wahr? Aber warte nur ab! Wie ich euch leichtlebige Dinger kenne, wird von dem ganzen Geld schon bald nichts mehr übrig sein, vermutlich ist es im Handumdrehen für Kleider und anderen Tand verplempert oder in Bars und Kneipen mit Männern durchgebracht!«
»Mich kennt ihr nicht, Miss Forsyth«, erwiderte Éanna zornig. »Ich habe nicht die Absicht zu kündigen. Und das Geld werde ich erst einmal auf mein Sparkonto einzahlen.«
»So?« Der Haushälterin schien diese Antwort noch viel weniger recht zu sein. Die Lippen fest aufeinandergepresst, musterte sie Éanna von oben bis unten. »Das werden wir ja sehen, wie lange du etwas von dem Geld hast. Aber glaub ja nicht, dass du von nun an etwas Besseres bist als das übrige Personal hier. Denk nicht, du müsstest jetzt nicht mehr genauso hart arbeiten wie jedes andere Dienstmädchen im Haushalt. Nur weil du einer alten Frau, die wahrscheinlich einfach zu verwirrt war, um zu wissen, was sie tat, so viel Geld abgeluchst hast, mit Gott weiß was für raffinierten Einflüsterungen! Und lass dich bloß nicht von mir dabei erwischen, dass du diese zweifelhafte Geschichte unter dem Personal herumtratschst und dich damit wichtig machst! Denn ich verspreche dir, dann werde ich persönlich dafür sorgen, dass du schneller auf der Straße stehst, als du das Vaterunser herunterbeten kannst! Und jetzt mach, dass du wieder an deine Arbeit kommst. Diese ganze anrüchige Sache hat schon viel zu viel Zeit gekostet!«
Éanna nahm die gehässigen Worte gar nicht
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