Éanna - Ein neuer Anfang
richtig wahr. Viel zu groß war der Schock, unter dem sie seit Mister Gallaghers Erscheinen stand.
Doch sie dachte den ganzen Tag lang über die Sache nach. Sie erinnerte sich daran, dass Eleanor keine sehr gute Meinung von ihrem Sohn gehabt hatte.
Hatte sie sich nicht sogar mehrmals darüber beklagt, dass James sich nicht ernsthaft genug darum bemühte, eine kleine Wohnung für sie in seiner Nähe zu suchen? Aber egal, wie zerrüttet das Verhältnis zwischen Mutter und Sohn auch gewesen sein mochte, war es doch nicht richtig von ihr, nun Geld anzunehmen, dass eigentlich James Cox zugestanden hätte. Und so kam Éanna nach langem Ringen mit sich selbst zu dem Schluss, dass Eleanor ihrem Sohn ihr mühsam zusammengespartes Geld vorenthalten hatte und dass sie Kontakt zu ihm aufnehmen musste.
Deshalb lieh sie sich nach der Arbeit von der Köchin Amelia, die in regelmäßigem Briefkontakt mit ihrer Schwester in Philadelphia stand, einen Schreibblock, Briefumschlag und Stifte aus und setzte ein kurzes Schreiben an James Cox auf. Dann adressierte sie den Brief an die New England Steamship Company in Boston, zu Händen des Seemanns James Cox von der Lady Lennox und gab ihn am nächsten Morgen in der Post auf.
Gespannt und ohne ein Wort über die Erbschaft gegenüber Brendan zu verlieren, wartete sie auf Antwort. Gut eine Woche später, an einem Freitagvormittag, erreichte sie ein Brief aus Boston. Darin teilte James Cox ihr in ungelenker Handschrift mit, dass es sich bei dem angeblichen Erbe seiner Mutter zweifellos um einen Irrtum der Kanzlei handeln müsse. Denn er wisse mit Sicherheit, dass seine Mutter eine solche Summe nie besessen habe. Eleanor war zwar Kundin bei der Empire Savings & Loan gewesen, doch das einzige Konto, das sie dort besessen hatte, hatte ihr Sohn kurz nach ihrem Tod aufgelöst – siebenundzwanzig Dollar und zehn Cent waren darauf eingezahlt worden. Zum Schluss riet James ihr, sich unverzüglich mit den Anwälten der Kanzlei in Verbindung zu setzen, bevor der rechtmäßige Erbe den Irrtum bemerken und rechtliche Schritte gegen sie einleiten würde, die unangenehme Folgen für sie haben könnten.
Nachdem Éanna von Missis Harrington unter der Auflage, die versäumte Arbeitszeit am kommenden Sonntag nachzuholen, die Erlaubnis erbeten hatte, das Haus am Mittag kurz zu verlassen, lief sie noch am selben Tag zur Kanzlei Gallagher & Sons , die in der Nähe der pompösen Astor-Oper mit ihren hohen Säulenkolonnaden lag. Dort eingetroffen, ließ sie sich unverzüglich in das Büro von Mister Kenneth Gallagher führen.
Verwundert blickte er ihr entgegen, als sie ins Zimmer eilte und dabei atemlos rief: »Mister Gallagher, das Geld, das angeblich zum Erbe von Missis Cox gehört und das Ihr mir erst letzte Woche übergeben habt, steht mir nicht zu!« Rasch holte sie James Cox’ Brief hervor und hielt ihn dem Anwalt hin. »Ihr müsst den Scheck also unverzüglich zurücknehmen und mir bestätigen, dass ich ihn Euch zurückgegeben habe! Denn ich will nicht, dass der rechtmäßige Besitzer schlecht von mir denkt!«
Kenneth Gallagher sah sie ruhig an, stand dann auf und kratzte sich verlegen am Kinn. »Nun, mit dem Geld hat es schon seine Richtigkeit, Miss Sullivan. Es ist für Euch und niemand sonst bestimmt … Auch wenn ich nun wohl zugeben muss, dass es stimmt: Das Geld stammt nicht aus der Hinterlassenschaft der verstorbenen Missis Cox.«
»Was? Aber von wem stammt es denn dann?«
Mister Gallagher druckste herum. »Nun, das ist eine etwas prekäre Situation. Denn meine Schweigepflicht erlaubt es mir eigentlich nicht, Euch nähere Auskünfte darüber zu erteilen, wer mich mit der Auszahlung dieser Summe beauftragt hat.«
Éanna glaubte, ihren Ohren nicht zu trauen. Plötzlich hatte sie eine Idee, die eigentlich viel zu absurd war, um wahr zu sein. Und doch – ihr fiel nur eine einzige Person ein, die verrückt genug war, ihr so viel Geld unter dem Deckmantel einer angeblichen Erbschaft zukommen zu lassen.
»Ist es Euch als Anwalt denn erlaubt, mir eine Erbschaft vorzuschwindeln?«, fragte sie nun kühner. Sie musste unbedingt herausfinden, ob ihr Verdacht sich bestätigte.
Der Anwalt errötete leicht. »Nun ja, da befinden wir uns natürlich auf recht unsicherem juristischem Boden«, räumte er widerstrebend ein. »Aber da es sich bei dieser Transaktion nicht um eine Täuschung oder um Betrug zu Eurem Nachteil handelt … nun ja, sondern vielmehr lediglich um eine wohl entschuldbare
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