EB1021____Creepers - David Morell
»Als
du das Heim verlassen hast – hast du da einen neuen Namen
angenommen? Ist es das, was passiert ist? Mit einem neuen
Namen würde die Vergangenheit dich nicht mehr einholen
können. Niemand würde dich mit diesem vierten Juli in Ver‐
bindung bringen. Niemand würde wissen, dass du deinen Va‐
ter umgebracht hast. Niemand würde wissen, dass er dich
missbraucht hatte.«
Balenger beobachtete Amanda. Die Platte des Schlosses
schien kurz davor zu sein, sich von der Wand zu lösen. »War
es das, Ronnie? War es Carlisles Idee, dass du deinen Namen
änderst? War das auch eine Methode, dir zu helfen?«
»Oh, er hat mir geholfen, keine Frage«, sagte die Stimme.
»Er konnte gar nicht mehr aufhören zu helfen.«
»Oder Entschuldigungen zu finden? Selbst als er schon
vermutet hast, was du treibst, hat er immer noch Entschuldi‐
gungen für dich gefunden, stimmt’s? Er hat nicht wirklich
glauben wollen, zu was du in der Lage warst. Warum sollte –«
Amanda stemmte sich gegen die Brechstange. Als die Platte
des Schlosses sich von der Wand löste, kehrte Balenger in die
Küche zurück und packte sie, bevor sie auf dem Boden auftref‐
fen konnte.
»Warum hat er Entschuldigungen für dich gefunden, Ron‐
nie?« Balenger empfand Übelkeit, als ihm die Antwort einfiel.
»Er hat durch die Wand zugesehen. Er hat deinen Vater gese‐
hen… Er hat den Perverso, von dem dein Vater Geld genom‐
men hatte, reinkommen sehen und… Nachdem er ein Leben
lang nur zugesehen hatte, wurde es Carlisle endlich zuwider,
nur Beobachter zu sein. Er hätte etwas tun können, um es zu
verhindern, aber… Er war ein Gott, der die von ihm selbst ge‐
schaffene Hölle beobachtet hat, ohne einzugreifen. Aber als er
gesehen hat, wie du deinem Vater den Schädel einschlägst, hat
er endlich noch etwas anderes empfunden als nur Neugier.
Vielleicht weil er als Kind so viel allein gewesen war, hat er
sich mit dir identifiziert. Er hat sich schuldig gefühlt. Er hat
sich gewünscht, er hätte verhindern können, was da passiert
ist. Das Einzige, was ihm jetzt noch übrig blieb, war Wieder‐
gutmachung. Er hat dich verwöhnt, und eines Abends hat er
dann die Konsequenzen entdeckt.«
»Heute Abend wirst du die Konsequenzen entdecken. Ich
kann von hier aus Rauch sehen«, sagte die Stimme. Balenger
schob das Funkgerät in den Rucksack. Er und Amanda drück‐
ten gegen den Fensterladen. Er war überrascht, wie leicht die
Rollen sich in ihrer Schiene bewegten.
04:00 Uhr
58
Das Fenster klaffte. Es war, wie alle anderen Fenster im Hotel,
zerbrochen – ein Teil der Verkleidung, die das Gebäude so
aussehen ließ, als sei es verlassen. Aus der heulenden Dunkel‐
heit heraus peitschten Balenger Wind und Regen ins Gesicht.
Er und Amanda holten tief Luft, füllten Nase, Kehle und Lun‐
gen. Ein Blitz zuckte und erleuchtete den Strand sieben Stock‐
werke weiter unten. Balenger schob den Fensterrahmen hoch,
um sich nicht an den Scherben zu schneiden. »Ich suche eine
Stelle, an der ich das Seil anbringen kann«, sagte er zu Aman‐
da. »Mach den Laden zu, sobald ich draußen bin. Wenn Ron‐
nie die frische Luft riecht, merkt er, was wir vorhaben.«
Er kletterte durch das Fenster hinaus. Regen peitschte ihm
entgegen. In der grünstichigen Dunkelheit setzte er vorsichtig
die Füße auf das Dach. Windstöße schüttelten ihn wie unsich‐
tbare, stoßende Hände. Nässe klatschte ihm ins Gesicht und
rann ihm in den Mund. Sie schmeckte bitter – eine Mischung
aus Schweiß, Schmutz und Blut von seinen Wangen.
Der Regen auf der Brille erschwerte die Sicht. Er wischte
über die Linsen, zuckte zusammen, als in der Nähe ein Blitz
aufleuchtete, und bewegte sich vorsichtig weiter. Das Dach
fühlte sich schwammig an. Er trat ein Stück zur Seite und at‐
mete auf, als das Material unter seinen Füßen wieder fester
wurde. An der Kante des Daches ging er in die Hocke, damit
der Wind ihn nicht von den Füßen riss.
Einen Augenblick lang gestattete er sich selbst, zu hoffen;
dann sah er nach unten, und Verzweiflung überkam ihn. In
der Dachabdeckung unter ihm war ein Loch; Wasser strömte
hinein. Blitze zeigten ihm die tiefer liegenden Stockwerke.
Auch sie wiesen nach Jahren der Verwahrlosung Wetterschä‐
den auf. Oberflächenverkleidungen waren aufgerissen und
schlugen im Wind. Die Löcher waren selbst aus der Entfer‐
nung noch zu sehen.
Balenger öffnete den Mund zum Atmen. Wind
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