EB1021____Creepers - David Morell
gigantischen Foyers. Die
Decke war so hoch, dass ihre Stirnlampen sie kaum erfassten.
Der Fußboden bestand aus schmutzigem Marmor. Am Fuß
mehrerer Säulen hatte sich ein Gewirr zerbrochener Möbel
angesammelt; Trümmer von Stühlen, Tischen und Sofas, deren
einstmals üppige Polsterung verrottet war.
»Ein Aufräumtrupp, der wieder abberufen wurde, ist im‐
mer noch die logischste Erklärung«, sagte Conklin. Einige der
Säulen waren von schimmelnden Samtdiwanen umgeben.
Prachtvolle Kristalllüster hingen von der Decke. Balenger
machte einen Bogen um sie; er machte sich Sorgen, sie könnten
herabstürzen. Vinnie fotografierte einen der Leuchter, aber der
Kristallbehang reflektierte den Blitz kaum. Alles war stumpf
und roch nach Staub, und darüber lag ein weiterer scharfer,
schwer zu identifizierender Geruch. Spinnweben hingen
überall wie zerfetzte Vorhänge. Eine Maus huschte aus einem
der Diwane hervor. Urplötzlich schoss panisch ein Vogel von
einem der Kronleuchter herunter. Balenger zuckte zusammen.
»Wie ist denn der hier reingeraten?«, fragte Vinnie. Irgendwo
zirpte eine Grille.
Rick räusperte sich. »Willkommen im Dschungel.«
»Oder in Miss Havishams Privatmuseum aus Große Erwar‐
tungen. Lasst die Finger von Nestern und Höhlen«, warnte
Conklin.
»Glauben Sie mir, das habe ich sowieso vor«, sagte Balen‐
ger.
»Was mir Sorgen macht, ist der Uringeruch.« Jetzt erkannte
auch Balenger den Geruch. Er wischte sich übers Gesicht und
versuchte das Gefühl abzuschütteln, dass sich etwas
Schwammiges, Fauliges gegen seinen Mund drückte.
»Wenn man zu viel von dem Zeug einatmet, besteht das Ri‐
siko, sich ein Hantavirus zuzuziehen.« Balenger kannte das
Wort – der Professor sprach von einem erst kürzlich entdeck‐
ten grippeähnlichen Virus, das sich manchmal in den Nestern
von Nagetieren fand. Die Erreger waren für ihre tierischen
Wirte ungefährlich, für den Menschen dagegen potenziell töd‐
lich.
»Aber allzu viele Sorgen brauchen Sie sich deswegen auch
wieder nicht zu machen. Von Zeit zu Zeit taucht im Westen
der Vereinigten Staaten ein Fall auf, aber in dieser Gegend hier
sind sie sehr selten.«
»Jetzt bin ich wirklich beruhigt.«
Conklin lachte leise. »Vielleicht sollte ich das Thema wech‐
seln und stattdessen lieber über dieses Foyer reden. Wie schon
erwähnt, Morgan Carlisle hat großen Wert darauf gelegt, die
Infrastruktur des Hotels auf dem neuesten Stand zu halten.«
Die Stimme des Professors klang hohl in dem riesigen Raum.
»Aber den Stil der Inneneinrichtung hat er niemals verändert.
Von den Schäden abgesehen, sieht das Foyer genauso aus wie
zu der Zeit, als es im Jahr 1901 errichtet wurde. Natürlich war‐
en die Möbel von Zeit zu Zeit so abgenutzt, dass sie ersetzt
werden mussten. Aber das Aussehen blieb unverändert.«
»Schizophren«, sagte Rick. »Das Äußere ist fast schon Art
deco – zwanziger Jahre. Aber das Mobiliar ist Jahrhundert‐
wende. Viktorianisch.«
»Königin Victoria ist 1901 gestorben, in dem Jahr, als das
Paragon errichtet wurde«, erklärte der Professor. »Carlisle war
zwar Amerikaner, aber in seinen Augen hatte die Welt sich
nicht zum Besseren entwickelt. Dies ist der Stil des New Yor‐
ker Stadtpalastes, in dem er aufgewachsen war. Das Äußere
symbolisiert vielleicht die Orte, die seine Eltern besucht hatten
und die er selbst nicht sehen durfte. Aber das Innere repräsen‐
tiert die Umgebung, in der er sich am sichersten gefühlt hat.«
»Ja, schizophren. Kein Wunder, dass das Hotel keinen Ge‐
winn abgeworfen hat. Es muss bereits altmodisch gewirkt ha‐
ben, als es eröffnet hat.«
»Tatsächlich hatte es bald den Ruf eines Themenhotels.«
Conklin wies mit einer Handbewegung auf die Umgebung.
»Weil die Inneneinrichtung so unverändert viktorianisch blieb,
betrachtete man sie mit der Zeit nicht mehr als ›altmodisch‹,
sondern als ›historisch‹, und irgendwann haben die Leute von
einem ›Ausflug in die Vergangenheit‹ geredet. Die Angestell‐
ten trugen Livreen im Stil der Jahrhundertwende. Das Porzel‐
lan und das vergoldete Besteck blieben gleich, ebenso wie die
Speisekarte. Die Musik, die im Ballsaal gespielt wurde, stamm‐
te aus der gleichen Ära, und die Musiker steckten in der Klei‐
dung dieser Zeit. Alles entstammte einer anderen Epoche.«
Balenger studierte die Schatten. »Es muss ein höllischer
Schock gewesen sein, wenn ein Hotelgast in
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