Ebbe und Glut
ihm über den Boden wie eine geprügelte Hündin.
»Das weiß ich doch, Mia. Aber wir können es uns in Krisenzeiten nicht leisten, Leute durchzuschleppen, die keinen hundertprozentigen Einsatz zeigen.«
Mia schaffte es nur mühsam, die Fassung zu bewahren. Sie hatte fünfeinhalb Jahre für diesen Laden geschuftet und klaglos unzählige Überstunden gemacht. Sie war erfolgreich gewesen, ihr Team gewann Preise für herausragende Kampagnen und trug dazu bei, dass Keutner und Lempe auch in Krisenzeiten zu den Größten der Branche zählten. Jetzt hatte sie mal ein paar schlechte Wochen, und schon setzte man sie vor die Tür, als würden die Jahre davor nicht zählen.
»Ich könnte wieder Vollzeit arbeiten«, sagte sie und warf verzweifelt ihren letzten Rest Würde über Bord. »Das passt mir inzwischen sowieso viel besser.«
»Tut mir leid.« Clemens Marquardt klang endgültig. »Aber für weitere Vollzeitstellen haben wir erst recht keine Kapazitäten.« Mit einem Blick des Bedauerns besiegelte er Mias Schicksal.
Als sie bleich und zitternd aus dem Chefbüro taumelte, lief sie Stefan Büttner über den Weg.
»Na, Mia, wieder mal ne lange Nacht gehabt? Du siehst etwas verkatert aus«, neckte er sie.
»Ich bin grade rausgeflogen«, sagte sie tonlos.
Mia und Stefan Büttner waren immer gut miteinander ausgekommen. Anfangs versuchte Stefan ein paar Mal, Mia ins Bett zu kriegen, aber sie wies ihn jedes Mal sehr bestimmt ab, bis er irgendwann aufgab und sich zwischen ihnen ein gutes Verhältnis entwickelte. In den letzten Wochen war ihr Miteinander allerdings merklich abgekühlt. Seit ihrer Trennung von Frank hatte Mia sich völlig zurückgezogen.
Jetzt war Stefan schockiert. Er hatte nichts von Mias Rauswurf geahnt und ließ ihn sich in allen Einzelheiten schildern. »Irgendwann trifft es wohl jeden mal«, sagte er. »Und wir zwei sind in diesem Laden immerhin auch schon ziemlich lange dabei. Das ist ja in der Agenturwelt eher ungewöhnlich. Sieh es als Chance, mal etwas mehr von der großen, weiten Welt zu sehen. Mit so viel Begeisterung warst du in letzter Zeit ja wirklich nicht mehr dabei.« Er nickte ihr aufmunternd zu.
Natürlich hatte er recht, aber Mia war so fassungslos, dass sie keine Chancen sah, nur Abgründe. Erst Frank und jetzt auch noch der Job. Innerhalb weniger Monate brach ihr ganzes Leben weg. Sie konnte es nicht glauben.
»He …«, Stefan merkte erst jetzt, wie sehr sie neben sich stand. »Na, komm schon, Mädchen.« Er nahm sie einfach in die Arme und ließ sich auch nicht erschüttern, als sie in Tränen ausbrach und sein neues Boss-Hemd vollheulte.
»Gehen wir einen Kaffee trinken?«, fragte er und strich ihr beruhigend über den Rücken.
Sie grinste ihn mit verheulten Augen an. »Gern. Ist ohnehin die beste Zeit, um Feierabend zu machen.«
Es war gerade erst kurz vor elf. Stefan lachte und knuffte sie in die Seite. »Sehr schön. Der Humor ist schon wieder da. Dann kann der ganze Rest ja auch nicht mehr weit sein.«
Sie gingen zum Italiener um die Ecke, bei dem sie unzählige Mittagspausen gemeinsam mit den Kollegen verbracht hatten. Auf den Cappuccino folgte eine Flasche Merlot, dann ein Grappa. Und noch eine Flasche Merlot. Stefan war wenigstens so klug, zwischendurch auch noch etwas zu essen, aber Mia brachte keinen Bissen hinunter.
»Ich glaube, ich sollte meine kleine Pause langsam mal beenden«, stellte Stefan fest, als es draußen bereits dämmerte. Es war fast fünf, der Arbeitstag war mehr oder weniger rum.
»Und ich muss nach Hause. Ich bin so blau, dass ich nicht mehr arbeiten kann. Nie mehr. Ich kann überhaupt nie mehr arbeiten.« Mia schaffte es kaum noch, aufzustehen. Stefan griff ihr unter die Arme.
»Ich bring dich mal nach Hause«, sagte er und organisierte ein Taxi.
Im Taxi lehnte Mia ihren Kopf an seine Schulter. »Du bist so gut zu mir«, seufzte sie. »Du bist überhaupt der einzige nette Mensch in dieser ganzen verdammten Agentur.«
Stefan legte den Arm um sie und hielt sie fest. In ihrer Wohnung half er ihr aus den Schuhen und beförderte sie auf ihr Bett. Mia lag vor ihm, verführerisch, willig – und sturzbetrunken. Es wäre so leicht. Aber eine hilflose Frau erzeugte in Stefan Büttner kein Jagdfieber.
Er beugte sich über Mia. »Sehen wir uns morgen?« Er glaubte kaum, dass Mia noch mal in die Agentur kommen würde. Andererseits wollte sie sich nach all den Jahren vielleicht doch gerne von ein paar Leuten verabschieden.
Statt einer Antwort streckte
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