Ebbe und Glut
sie die Arme nach ihm aus und zog ihn zu sich herab. »Bleib doch noch ein bisschen hier«, murmelte sie mit schwerer Zunge und schläfrigem Blick.
Ihr Mund berührte seine Wange. Stefan drehte leicht den Kopf und spürte ihre Lippen jetzt direkt auf seinen. Er küsste sie ganz automatisch. Mia schmeckte nach Wein und nach Leidenschaft. Und sie küsste selbst total betrunken noch wundervoll. Aber sie würde sich morgen vermutlich an nichts mehr erinnern. Das war es nicht wert. Stefan löste sich von ihr.
»Schlaf dich erst mal gründlich aus. Und melde dich, wenn du was brauchst.«
Er ging.
Mia erschien am nächsten Morgen nicht mehr im Büro. Sie verabschiedete sich von niemandem und meldete sich auch bei Stefan Büttner nicht. Er räumte ihre privaten Dinge aus ihrem Schreibtisch, aber Mia ging nie ans Telefon und öffnete ihm auch nicht die Tür. Schließlich stellte er den kleinen Pappkarton im Treppenhaus vor ihrer Tür ab. Ein paar Mal rief er sie noch an, aber es sprang immer nur ihre Mailbox an, und Mia rief nie zurück.
Enttäuscht gab Stefan Büttner auf.
Mia war ihr Totalabsturz bereits am nächsten Morgen sehr peinlich. Stefan hatte ihre Wohnung kaum verlassen, als sie sich übergeben musste. Sie war so betrunken, dass sie es nicht mehr bis ins Bad schaffte und auf den Orientteppich in ihrem Schlafzimmer kotzte, der eigentlich Frank gehörte. Als Mia wieder zu sich kam, war es mitten in der Nacht. Sie lag immer noch angekleidet auf ihrem Bett, vom Boden stieg ein säuerlicher Geruch auf, ihre Zunge fühlte sich pelzig an und ihr Kopf dröhnte. Erneut wurde ihr übel, aber diesmal schaffte sie es gerade noch rechtzeitig bis zur Toilette. Sie kniete vor der Kloschüssel und spuckte sich die Seele aus dem Leib. Ihr ganzes Leben schien in der Kanalisation zu verschwinden, zurück blieb nur eine zitternde Hülle, die sich vor Schmerzen zusammenzog.
Dieses Gefühl von Leere und dumpfem Schmerz hielt wochenlang an. Anfangs verließ Mia kaum noch ihr Bett. Sie schlief und schlief und schlief. Schon das Aufstehen am Morgen empfand sie als so große Last, dass sie davor kapitulierte. Jeder Schritt, den sie tat, fühlte sich so an, als hätte sie Bleiplatten unter den Füßen. Jeder Gedanke bewegte sich im Zeitlupentempo in ihrem Gehirn, als bestünde ihr ganzer Kopf aus Watte, die jede noch so kleine Bewegung bremste.
Nach dem Schlafen kam das Weinen. Mia heulte so viel, dass sie sich wunderte, warum es auf dem Fußboden nie eine Überschwemmung gab. Sie hatte nicht gewusst, dass ein Mensch so viele Tränen vergießen konnte.
Nach dem Weinen kam die Erkenntnis. Sie war alleine. Sie war arbeitslos. Sie war fast vierzig. Sie konnte jetzt entweder eine Schachtel Schlaftabletten schlucken, sich vor die nächste S-Bahn werfen, Stefan Büttner anrufen und mit ihm hemmungslosen Sex haben, oder einfach ein neues Leben beginnen.
Sie entschied sich für das Letzte, wobei natürlich überhaupt nichts einfach war.
In den nächsten Wochen steckte Mia ihre kaum vorhandene Energie in das Projekt »neue Wohnung«. Frank überwies zwar weiterhin jeden Monat seinen Anteil an der Miete, aber Mia wollte das Geld nicht haben. Frank gehörte nicht mehr zu ihrem Leben, und sein Geld gleich gar nicht.
Sie brauchte daher dringend eine kleinere und billigere Wohnung. In diesem Fall hatte sie Glück. Im Oktober verlor sie ihren Job, und bereits zum ersten Januar fand sie durch einen Tipp von Henny eine Wohnung. Sie war klein und heruntergekommen, aber bezahlbar, und sie lag sogar ganz hübsch, in einer ruhigen Wohnstraße auf St. Pauli.
Mia stürzte sich mit ihrer kaum vorhandenen Energie in den Umzug. Weihnachten und Silvester überstand sie nur, weil sie damit beschäftigt war, Wände zu streichen, Kisten ein- und wieder auszupacken und Möbel in den dritten Stock eines Altbaus ohne Fahrstuhl zu schleppen.
Irgendwann im neuen Jahr wurde ihr bewusst, dass sie sich dringend bei einigen Leuten melden musste, allen voran Stefan Büttner. Aber ihr fehlte der Mut, ihn anzurufen. Sie wollte nicht, dass er ihr Scheitern bemerkte, dass er sah, wie schlecht es ihr ging und entdeckte, dass sie in den ersten Monaten ihrer Arbeitslosigkeit nicht in der Lage gewesen war, auch nur eine einzige Bewerbung zu schreiben, einen einzigen ihrer zahlreichen Kontakte zu nutzen, um einen neuen Job zu finden. Sie wusste, dass sie den Wettlauf mit der Zeit schon fast verloren hatte. Sie war jetzt drei Monate raus aus dem Job. Noch ein, zwei
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