Ebbe und Glut
weitere Monate, und es würde sich niemand mehr an sie erinnern. In der Werbebranche herrschte ein rasantes Tempo.
Aber Mia war wie gelähmt. So sehr sie es auch versuchte, sie fand den Weg zurück in die Arbeitswelt nicht mehr. Sie begann zu verdrängen. Sie ging dreimal pro Woche ins Fitness-Studio. Sie fuhr regelmäßig mit Henny zum Reiten, was sie bereits gemeinsam machten, seit sie vierzehn waren. Sie verschlang einen Krimi nach dem nächsten. Je blutrünstiger, desto besser. Sie saß jeden Abend stundenlang vorm Fernseher. Sie achtete mehr denn je auf ihr Äußeres und gab ihr letztes Geld für Kleidung und Friseurbesuche aus.
Nach außen wirkte Mia stark und zufrieden. Sie schien ihr Leben im Griff zu haben. Sie tat so, als würde sie ihr Geld als Freiberuflerin verdienen, damit sich ihre Freunde und Familie keine Sorgen machten. Niemand sollte wissen, dass sie nach wie vor wie gelähmt war und ihr jeden Morgen übel vor Angst war, weil sie es nicht ertrug, einen weiteren erfolglosen Tag durchstehen zu müssen.
Sie wusste, es lag nicht nur daran, dass sie zu alt für das Agenturgeschäft war und sich eigentlich nach etwas anderem umsehen müsste. Es war viel mehr. In ihr war etwas in Unordnung geraten. Ihre Sicherheit, ihr Glaube an sich selbst, an ihr persönliches Glück waren eingestürzt. Bisher war immer alles gut gegangen in ihrem Leben. Gewiss, es verlief nie so geradlinig wie bei Marie, aber irgendwie war am Ende immer alles wieder in Fluss gekommen. Wenn eine Beziehung scheiterte, fand Mia Trost in ihrer Arbeit und bei ihren Freunden. Wenn es beruflich nicht lief, sah sie das als Herausforderung und suchte sich selbstbewusst einen neuen Job, ein neues Projekt, mit dem sie der Welt und sich beweisen konnte, wie gut sie war. In den ersten Jahren nach dem Studium hatte sie ihren Job ständig gewechselt, immer auf der Suche nach neuen Herausforderungen. Sie war ehrgeizig und zielstrebig, und genau das hatten ihre Chefs immer so an ihr geschätzt.
In dunklen, einsamen Stunden musste sie zugeben, dass ihr am Ende tatsächlich der Biss gefehlt hatte. Vielleicht, weil sie sich so sicher gefühlt hatte, mit ihrem Job, mit Frank, mit ihrem ganzen Leben. Es gab keinen Grund, sich sonderlich anzustrengen.
Als dann ihr kleines, sicheres Leben einstürzte, reagierte Mia so hilflos und überfordert wie ein kleines Kind. Sie sehnte sich nach jemandem, der sie an die Hand nahm und ihr den Weg aus diesem Chaos heraus zeigte. Aber da war niemand. Um sie herum schien es nur finstere Stille zu geben. Mia fühlte sich so einsam wie in ihrem ganzen Leben noch nicht.
Und dann lernte sie Arthur kennen.
Er lenkte sie nicht nur wunderbar von ihren eigentlichen Themen ab. Sie fühlte sich durch ihn auch auf seltsame Weise endlich wieder lebendig. Da war jemand, der sie wollte , bei dem sie sich nützlich machen konnte – wenn auch auf äußerst eigenwillige Weise. Außerdem war Arthur so kalt, so tot, dass Mia erschrak. Nicht nur über ihn, sondern auch über ihre eigene innere Leere, die sie auf einmal erschütternd deutlich wahrnahm. Sie begriff, dass sie dringend etwas dagegen tun musste. Als Arthur ihr Verhältnis wieder beendete, war sie daher fast dankbar. Jetzt hatte sie keine Ausrede mehr, um vor sich selbst wegzulaufen. Sie musste sich ihrem Leben wieder stellen.
15
Mia wartete, bis sie den Zuschlag von Elbzeug erhielt. Sie hatte nach wie vor den Verdacht, dass Arthur bei der Sache seine Hände im Spiel hatte, aber sie fand nichts heraus. Also hoffte sie nur, dass Ulrich Hampel und seine Kollegen mit ihrer Arbeit zufrieden waren und niemand danach fragen würde, wie sie an den Job gekommen war.
Sie freute sich auf diese Arbeit. Mode lag ihr, sie begeisterte sich auch privat für schöne Stoffe und raffinierte Schnitte. Zunächst war sie skeptisch, ob so eine Ökofirma nicht nur unförmige Strickpullover und sackartige Kleider produzierte, doch schnell erkannte sie, dass hier eine neue Generation umweltbewusster Menschen aktiv war, die gezielt junge, trendbewusste Kunden ansprach. Die hochwertigen Kleider, Jacken und Pullover konnten sich sehen lassen und würden garantiert Käufer finden.
Am Abend nach der Zusage schickte Mia eine SMS an Arthur.
»Der neue Hauptjob wird mich sehr ausfüllen. Trotzdem hätte ich ab und zu noch Zeit für einen Nebenjob. Diesmal allerdings zu meinen Konditionen. Wie sieht's aus?«
Arthurs Antwort trudelte erst am späten Abend ein, als Mia schon mit einem Krimi im
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