Echo des Blutes: Thriller (German Edition)
Robles hätte niemals wieder auf freien Fuß gesetzt werden dürfen.
Schlamperei.
An dem Tag, als Robles verhaftet wurde, besuchte Byrne Lina Laskaris’ Großmutter, eine griechische Immigrantin Anfang siebzig. Anna Laskaris hatte Lina alleine großgezogen. Byrne versprach der Frau, dass der Mann, der für Linas Tod verantwortlich war, zur Rechenschaft gezogen werden würde. Er erinnerte sich an die Tränen der Großmutter, ihre Umarmung und den Zimtduft ihres Haars. Sie war gerade dabei gewesen, einen Pantespani zu backen.
Am lebhaftesten erinnerte Byrne sich daran, dass Anna Laskaris ihm vertraut hatte und bitter enttäuscht worden war.
Byrne sah sich in dem angelaufenen Spiegel hinter der Theke. Er hatte eine Baseballcap und die Brille auf, die er seit kurzem gezwungenermaßen tragen musste. Wenn Robles nichts getrunken hätte, hätte er Byrne wahrscheinlich erkannt. Doch nun nahm er ihn – wie die anderen in dieser kleinen Kneipe vermutlich auch – nur noch schemenhaft wahr. Das hier war keine vornehme Bar in Center City. Hier verkehrten Säufer und knallharte Männer.
Um 00.30 Uhr verließ Robles schon ein wenig wankend die Kneipe. Er stieg in seinen Wagen und fuhr die Frankford Avenue hinunter. Als Robles die York Street erreichte, bog er rechts ab, fuhr noch ein paar Blocks weiter und parkte.
Byrne saß in seinem Wagen auf der anderen Straßenseite und beobachtete ihn. Robles stieg aus und blieb zwei Mal stehen, um mit jemandem zu sprechen. Er war auf der Suche nach Stoff. Nach ein paar Minuten kam ein Mann auf ihn zu.
Robles ging mit dem anderen Mann unsicheren Schrittes die Gasse hinunter. Kurz darauf sah Byrne auf der schmutzigen Mauer der Gasse Licht aufflackern. Robles steckte sich eine Crackpfeife an.
Byrne stieg aus und schaute die Straße in beide Richtungen hinunter. Niemand zu sehen. Sie waren allein. Philadelphia schlummerte allmählich wieder ein, abgesehen von jenen, die im Schutz der Dunkelheit leise durch die Nacht schlichen.
Byrne trat in den Schatten. Von irgendwoher, vermutlich tief aus seinem Inneren, begann eine längst vergessene Melodie zu spielen.
Sie klang wie ein Requiem.
6.
M ONTAG , 25. O KTOBER
Das Joggen am frühen Morgen durch den Pennypack Park war ein heiliges Ritual geworden, das Jessica nicht gerne aufgab. Die Menschen, die sie allmorgendlich sah, waren nicht nur Teil der Landschaft, sondern auch Teil ihres Lebens.
Die im 1960er-Pillbox-Stil immer tadellos gekleidete, ältere Frau, die ihre vier Jack Russell Terrier jeden Morgen ausführte. Die Hunde besaßen eine Garderobe, die teurer und exakter der Jahreszeit angepasst war als Jessicas. Die Tai-Chi-Gruppe, die bei Wind und Wetter ihre morgendlichen Übungen auf dem Baseballfeld in der Nähe der Holme Avenue machte. Dann ihre Laufbekanntschaften, die beiden Russen, Halbbrüder, die beide Iwan hießen. Sie waren schon in den Sechzigern, aber unglaublich fit. Da sie im Sommer beide in lindgrünen Badehosen joggten, wusste Jessica auch, dass sie eine furchtbar starke Körperbehaarung hatten. Für Halbbrüder sahen sie sich verdammt ähnlich. Manchmal konnte Jessica sie kaum unterscheiden, aber das war auch nicht so wichtig. Wenn sie einem der beiden begegnete, sagte sie immer: »Guten Morgen, Iwan«, worauf dieser ihr ein freundliches Lächeln schenkte.
Auch nach dem Umzug der Familie nach South Philly würde es ein paar Orte geben, an denen Jessica joggen konnte. Es würde aber eine Weile dauern, bis sie dort genauso sorglos laufen konnte wie hier.
In diesem Park, wo sie ihre Strecke und die Wege in-und auswendig kannte, konnte sie in Ruhe nachdenken und sich über manches Klarheit verschaffen. Das würde sie am meisten vermissen.
Als Jessica der Biegung folgte und den Hang hinauflief, dachte sie an Marcia Kimmelman und das, was Thompson ihr angetan hatte. Sie dachte an Lucas Anthony Thompson und seinen ungläubigen Blick, als sich die Handschellen um seine Handgelenke schlossen und er begriff, dass es vorbei war. Besonders schön war der Augenblick, als sie ihn mit Dreck und Kies in Gesicht und Klamotten vom Boden hochrissen. Jessica musste zugeben, dass ihr die Nummer mit dem dreckigen Gesicht immer gut gefiel. Schlamm war noch besser, aber da musste das Wetter mitspielen.
Mit diesem tröstlichen Bild vor Augen bog sie in ihre Straße ein und sah jemanden am Ende der Einfahrt stehen. Einen Mann im dunklen Anzug. Dennis Stansfield.
Im ersten Augenblick war Jessica ein wenig beunruhigt, doch dann stieg
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