Echo des Blutes: Thriller (German Edition)
wandte Jessica dann wieder den Blick zu. »Das geht jetzt eine Weile so weiter, richtig?«
»Glaub schon.«
Die Kriminaltechniker sicherten noch immer die Spuren in der Federal Street. Mittlerweile war die Gasse an beiden Enden mit Flatterband abgesperrt. Wie immer beobachteten zahlreiche Schaulustige das Geschehen. Jessica wunderte sich immer maßlos, dass nie jemand etwas gehört oder gesehen hatte. Aber sobald die Ermittlung begann und den Anwohnern ein kostenloses Spektakel geboten wurde, hatten plötzlich alle Zeit, sich den Hals zu verrenken und zu gaffen. Dann mussten alle zufällig gerade nicht arbeiten und nicht zur Schule gehen.
Als Jessica und Byrne um die Ecke bogen, sahen sie ein paar Vorgesetzte, unter ihnen auch den Stellvertretenden Bezirksstaatsanwalt Michael Drummond.
»Herr Staatsanwalt«, sagte Byrne.
»Schon das zweite Mal heute«, erwiderte Drummond. »Die Leute werden reden.« Er wandte sich an Jessica. »Ich freue mich, Sie zu sehen, Jessica.«
»Ich freue mich auch. Und was führt Sie hierher?«
»In einer Stunde habe ich eine Gerichtsverhandlung, aber der Befehl kam von Walhall. Ein neuer Staatsanwalt mit seinen eigenen Vorstellungen. Alles, was in der Nähe einer Schule passiert, hat oberste Priorität. Mein Boss möchte von Beginn an auf dem Laufenden gehalten werden. Er brüllt, und ich renne los.«
»Verstehe.«
»Könnten Sie mir von allem Kopien schicken?«, fragte Drummond.
»Kein Problem.«
Jessica und Byrne schauten Drummond nach, als er die Straße überquerte und möglichst weit vom Tatort entfernt Position bezog. Jessica wusste, warum. Wenn ein Stellvertretender Bezirksstaatsanwalt sich in der Nähe des Tatortes aufhielt, konnte er möglicherweise auch etwas bezeugen und daher in seinem eigenen Fall in den Zeugenstand gerufen werden. Und das war Grund genug, diese Aussage abzulehnen. Es war ein Spiel, und alle kannten die Spielregeln.
Byrne ging bis zur Einmündung der Gasse und sprach mit dem Streifenbeamten. Dieser wies auf die beiden Häuser hinter dem Tatort und nickte. Byrne zog sein Notizbuch aus der Tasche und schrieb sich etwas auf.
Jessica kannte ihren Partner.
Sobald Kevin Byrne sich an einem Mordtatort aufhielt, war er in seinem Element.
9.
Mit wachsamem Blick und geschärften Sinnen ging Byrne auf das Tatorthaus zu. Sein Adrenalinspiegel stieg steil an. Das war seltsam, vorsichtig ausgedrückt. Gleichgültig, wie müde er war – heute lag seine Müdigkeit auf einer Skala von eins bis zehn bei sieben –, sobald er an einen Tatort kam, fiel alle Erschöpfung von ihm ab. Tatorte waren für Ermittler wie eine Droge, die sie süchtig machte, in Euphorie versetzte, aufputschte und die ihnen letztendlich jegliche Energie raubte. Es gab kein vergleichbares Gefühl. Das beste Essen, der beste Wein und sogar fantastischer Sex konnten damit nicht konkurrieren.
Okay, dachte Byrne. Sex vielleicht.
Er konzentrierte sich auf die ummittelbare Umgebung des Hauses, in dem sie die Leiche gefunden hatten. In der Luft hing der Gestank von verfaultem Obst. Er kam aus dem Müllcontainer, der ein paar Meter entfernt stand. Und aus dem ehemaligen Schuhgeschäft drang der unverkennbare Geruch des Todes.
Byrne stieg die Treppe hinunter und betrat das Haus. Obwohl der Gestank fast unerträglich war, nahm er ihn nicht als Erstes wahr. Stattdessen hatte er das Gefühl, soeben eine Grenze überschritten zu haben und in die Psyche eines Killers, in das Reich eines Wahnsinnigen eingetaucht zu sein.
Es ist ein Einvernehmen, ein Gleichgewicht, eine Partnerschaft.
Byrne blieb stehen und wartete auf mehr. Nichts. Noch nicht.
Nicht nur der Termin im Schlaflabor stand ihm bevor, sondern auch die jährliche Magnetresonanztomografie. Seitdem Byrne vor fünf Jahren bei einem Schusswechsel beinahe tödlich verwundet worden war, musste er sich jedes Jahr einem MRT unterziehen. Er kannte alle Leute in der Radiologie des Krankenhauses, und die Stimmung war bei seinen Besuchen dort immer unbeschwert. Doch sie wussten alle, warum er kommen musste. Es bestand die Gefahr, dass er einen Hirntumor bekam. Byrne hatte alles über diese Krankheit und ihre Symptome gelesen – Blackouts, Stimmen im Kopf, mitunter unerklärliche Gerüche.
Bei einer anderen Ermittlung viele Jahre zuvor hatte er einen Verdächtigen in einer Kneipe unter der Walt Whitman Bridge gestellt. Bei der Verhaftung kam es zu einem Kampf, und Byrne stürzte mit dem Verdächtigen in den eiskalten Delaware River. Als sie ihn
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