Echo des Blutes: Thriller (German Edition)
schließlich aus dem Wasser zogen, wurde er für tot erklärt. Eine volle Minute später kam er wieder zu sich.
Kurz danach begannen die Visionen, es waren jedoch nie ganz deutliche Erscheinungen. Man durfte es sich nicht etwa so vorstellen, dass er einen Tatort betrat, die Augen schloss und das Verbrechen dann in Technicolor und mit THX-Sound vor ihm ablief. Vielmehr war es eher ein Gefühl, das ihn mitunter ins Reich der Sinne und Empfindungen führte, und meistens bekam er ein Gespür für das Opfer und den Täter. Ein Gedanke, ein Traum, ein Wunsch, eine Gewohnheit.
Byrne hatte Gruppentherapiesitzungen jeder Art und sogar eine Regressionstherapiegruppe besucht. Er hatte gehofft, dadurch wieder zu dem Augenblick vor dem Unfall und dem Sturz in den eisigen Fluss zurückkehren zu können und wieder der Mensch zu werden, der er vor dem Unfall gewesen war. Mittlerweile wusste Byrne, dass ihm keine Therapie helfen konnte.
In den folgenden Jahren ließen die Visionen genauso nach wie die Migräneanfälle, die immer gleichzeitig auftraten. Inzwischen litt er nur noch selten darunter.
In letzter Zeit hatte Byrne keinen schlimmen Migräneanfall mehr gehabt, aber er wusste, dass in seinem Inneren etwas geschah. Mehr als einmal hatte er in den letzten Monaten etwas gespürt … keine Schmerzen, sondern nur ein dumpfes Gefühl im Kopf, verbunden mit einer leichten Trübung des Blicks. Und mit diesen Empfindungen gingen die deutlichsten Visionen einher, die er jemals gehabt hatte, und sie waren nun von Tönen begleitet. Manchmal folgte dann ein Blackout.
Byrne wusste noch nicht, ob er mit seinem Arzt darüber sprechen wollte. Wenn er es tat, zöge das unweigerlich weitere Untersuchungen nach sich.
Byrne betrat im Keller den Raum, in dem der tote Mann auf dem Boden lag. Als er daran dachte, dass vor knapp vierundzwanzig Stunden an dieser Stelle ein Mörder gestanden und dieselbe Luft geatmet hatte, beschleunigte sich sein Herzschlag.
Er wollte sich die Leiche gerade genauer anschauen, da spürte er, dass sein Kopf warm wurde. Byrne hielt sich am Türrahmen fest und blieb einen Augenblick reglos stehen. Mit der Wärme kam das Wissen, dass …
… etwas viele Jahre lang geschwelt hatte, ein Gefühl des Verlusts und des Begehrens, eine heimliche Leidenschaft, die für immer unerfüllt bleiben wird, eine nicht gelebte, unbeschreibliche Lovestory, der Wunsch, ein Vermächtnis zu hinterlassen …
Byrne kniete sich auf den Boden, streifte einen Latexhandschuh über und zog ihn dann sofort wieder aus. Er musste das Fleisch spüren. Zwischen der Haut des Toten und seinen Empfindungen entspann sich ein Dialog. Ein Vorgesetzter oder ein Mitarbeiter aus der Rechtsmedizin hätten sicherlich Einwände erhoben. Doch das interessierte Byrne im Augenblick nicht. Er war allein mit dem Toten und dem, was sich hier in diesem Raum abgespielt hatte, allein mit dieser unsäglichen Wut, die jemanden dazu getrieben hatte, einem Menschen auf so brutale Weise das Leben zu nehmen.
Er war mit sich allein.
Kevin Byrne legte einen Finger auf die Lippen des Toten. Er schloss die Augen und lauschte, und der Tote sprach.
10.
Jessica und Byrne trennten sich und verbrachten die nächste Stunde damit, selbst Befragungen in der Nachbarschaft durchzuführen. Sie erfuhren eine Menge über betrogene Ehefrauen, Hauseigentümer, die ihren Pflichten nicht nachkamen, Falschparker, mögliche internationale Drogenkartelle, Invasionen Außerirdischer, noch mehr Falschparker und – ein Lieblingsthema – Verschwörungen der Regierung. Mit anderen Worten, sie erfuhren nichts.
Um drei Uhr trafen Jessica und Byrne sich Ecke Fünfte und Federal und verglichen ihre Ergebnisse.
»Jess«, sagte Byrne und streckte den Arm aus.
Jessica schaute in die angegebene Richtung und sah zwei Gestalten auf einem unbebauten Grundstück zwischen zwei alten Reihenhäusern sitzen. Sie wurden beobachtet.
Jessica und Byrne liefen ein Stück die Federal hinunter. David Albrecht, der gerade Filmaufnahmen aus der Vogelperspektive von nahe gelegenen Dächern gemacht hatte, folgte ihnen, hielt aber Abstand.
Die beiden alten Männer saßen auf Gartenstühlen in der Nähe der Straße gegenüber dem Baseballplatz. Auf ihren Knien lagen Rennprogramme und die Sportteile des Inquirer von heute Morgen. Sie waren Ende siebzig und hatten ihre Stühle so hingestellt, dass sie beide sehen konnten, was in der Umgebung vor sich ging, und sich dabei gut unterhalten konnten. Jessica hatte das Gefühl,
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