Echo des Blutes: Thriller (German Edition)
sie die Hände aus, rieb die Handflächen aneinander, streckte die Zeigefinger beider Hände aus, ballte die Fäuste und zeigte auf Byrne.
Das hieß in der amerikanischen Gebärdensprache: »Ich freue mich, dich zu sehen.«
»Sehr gut«, sagte Byrne. »Hast du das gerade gelernt?«
Sophie nickte. »Es hat ein bisschen gedauert.«
Byrne lächelte. »Bei mir hat es viel länger gedauert.«
Kurz darauf küsste er Sophie auf den Kopf und sah ihr nach, als sie ins Haus zurückkehrte. Byrne blieb dort stehen und beobachtete Jessicas Familie eine Weile durch das Fenster. Es war schon lange her, dass er zu einer Familie gehört hatte.
Er dachte über Sophies Gebärdensprache nach, wie entschlossen sie war und wie hartnäckig sie übte, bis sie es konnte. Er dachte daran, wie viel Wahrheit in alten Sprichwörtern steckte, zum Beispiel in dem von dem Apfel, der nicht weit vom Stamm fällt.
Byrne ging die Dritte Straße hinunter und stieg in seinen Van. Nicht weit von hier entfernt war er aufgewachsen. Er erinnerte sich an einen kleinen Eckladen, in dem er immer seine Wasserpistolen und Comic-Hefte gekauft und manchmal einen Schokoriegel abgestaubt hatte. Er erinnerte sich auch an einen Jungen, der mal in der Gasse hinter dem Geschäft verprügelt worden war, weil er ein Mädchen aus der Nachbarschaft belästigt haben sollte. Byrne saß mit seinem Cousin Patrick an der Ecke, als es passierte. Er erinnerte sich an die Schreie des Jungen. Zum ersten Mal erlebte er damals aus unmittelbarer Nähe Gewalt und hörte jemanden vor Schmerzen schreien. Er glaubte, dass all diese Schreie, all die dunklen Echos der Gewalt irgendwie erhalten blieben.
Eine ganze Weile saß Byrne reglos in seinem Wagen. Er rollte die 50-Cent-Münze zwischen den Fingern und hing den Erinnerungen an sein altes Viertel nach.
Dann sah er einen Schatten neben dem Fenster auf der Fahrerseite des Vans. Byrne richtete sich auf. Es war Jessica. Er ließ das Fenster herunter.
»Was gibt’s?«, fragte er. »Willst du schon wieder zurück?«
»Es geht um das Papier, das um die Köpfe der Opfer gewickelt war.«
»Und?«
»Wir haben die Papiersorte.«
26.
Das kriminaltechnische Labor war in dem massiven Gebäude einer ehemaligen Schule untergebracht. Es lag ein paar Blocks vom Roundhouse entfernt Ecke Achte und Poplar Street.
Sergeant Helmut Rohmer, der unumschränkte Herrscher der Dokumentenabteilung, war fünfunddreißig Jahre alt und mit seinen über eins neunzig ein wahrer Riese. Er brachte gut einhundertzwanzig Kilo auf die Waage. Neben seinem außergewöhnlichen und breit gefächerten Musikgeschmack, der von Iron Maiden bis Kitty Wells reichte, war er für seine stets schwarzen und immer mit neuen Aufdrucken versehenen T-Shirts bekannt. Er musste Hunderte davon besitzen. Mittlerweile bekam er sie schon per Post zugesandt, sogar von Leuten, die unter anderem mit seiner Unterstützung ins Gefängnis gewandert waren. Heute stand auf dem T-Shirt:
PADDLE SCHNELLER.
ICH HÖRE BANJOS.
Seine muskulösen Arme waren mit kunstvollen Tattoos verschiedenster Rosen verziert. Neuerdings rankte sich Efeu über seine Handgelenke bis auf die Handrücken. Rohmer war bis hin zu seinen unglaublich sorgfältig manikürten Händen stets sehr gepflegt. Jessica nahm an, dass die Maniküre etwas mit dem Tastsinn zu tun hatte. Hell Rohmer wollte nicht, dass irgendetwas seinen Tastsinn beeinträchtigte. Wie er an die kriminaltechnische Untersuchung von Dokumenten heranging, hatte schon fast etwas Übersinnliches. Das war einer der Gründe, warum er und Byrne dieselbe Sprache sprachen.
»Guten Abend, Schnüffler«, sagte Hell.
»Guten Abend, Alchemist«, erwiderte Byrne.
Hell lächelte. »Ich hab Ihr Papier«, sagte er. »Meinem Röntgenblick bleibt nichts lange verborgen.«
An der Wand hingen sechs vergrößerte Fotografien des Papiers – Vorder-und Rückseite –, mit dem die Köpfe der Opfer umwickelt gewesen waren. Auf den Fotos konnte man auch das Blut sehen, das von den Schnittwunden und kleinen Stichwunden auf der Stirn der Opfer durchgesickert war. Ein Strich, ein Punkt und die unbeholfen gemalte Zahl Acht an den verstümmelten Ohren.
»Was haben wir?«, fragte Jessica.
Hell nahm ein kleines, quadratisches Stück Papier in die Hand, das er vom Ende eines der Streifen abgeschnitten hatte. »Das ist teuer«, sagte er und strich mit dem Finger über das Papier mit der leicht gerauten Oberfläche. »Es ist wirklich schön. Unser Täter hat einen erlesenen
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