Echo Einer Winternacht
Bar. »Ich würde es meinem schlimmsten Feind nicht wünschen und schon gar nicht meinem Freund. Es ist abscheulich. Mein Gott, Paul, ich hoffe, sie finden heraus, wer das getan hat, um deinetwillen.
Was uns passiert ist, hat mein Leben vergiftet.«
»Ziggys auch. Er hat nie vergessen, wie schnell die menschliche Spezies zum Feind werden kann. Es hat ihn im Umgang mit Menschen sehr vorsichtig gemacht. Und deshalb ist die ganze Sache so verrückt. Er hat sich ganz besonders angestrengt, sich keine Feinde zu schaffen. Nicht dass er sich wie ein Trottel benommen hätte …«
»Das hätte niemand je von ihm behaupten können«, stimmte Alex zu. »Aber du hast recht. Eine sanfte Antwort kann den Zorn ablenken. Das war sein Motto. Aber wie stand es mit seiner Arbeit? Ich meine, in Krankenhäusern läuft manchmal etwas falsch. Kinder sterben, oder sie werden wider Erwarten nicht geheilt. Eltern brauchen manchmal jemanden, dem sie die Schuld geben können.«
»Wir sind hier in Amerika, Alex«, sagte Paul sarkastisch. »Die Ärzte gehen keine unnötigen Risiken ein. Sie haben zu viel Angst, verklagt zu werden. Sicher, Ziggy hat hier und da Patienten verloren. Und manchmal lief etwas nicht so gut, wie er sich erhofft hatte. Aber unter anderem war er ein so erfolgreicher Kinderarzt, weil er sich mit seinen Patienten und ihren Familien anfreundete. Sie vertrauten ihm, und damit hatten sie recht. Weil er ein guter Arzt war.«
»Das weiß ich. Aber wenn Kinder sterben, hat die Logik manchmal nichts mehr zu melden.«
»Es hat nichts Derartiges gegeben. Ich hätte davon erfahren, wenn so etwas vorgefallen wäre. Wir haben miteinander geredet, Alex. Selbst nach zehn Jahren haben wir über alles gesprochen.«
»Und Kollegen? Hat er irgendjemanden verärgert?«
Paul schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht. Er hatte hohe Ansprüche, und ich nehme an, dass nicht alle, mit denen er zusammenarbeitete, immer seinen Maßstäben genügen konnten.
Aber er hat seine Mitarbeiter sehr sorgfältig ausgewählt. Am Krankenhaus herrscht ein sehr gutes Arbeitsklima. Ich glaube, es gibt da keine einzige Person, die ihn nicht respektierte. Mein Gott, diese Leute sind unsere Freunde. Sie kommen zu uns nach Hause zum Grillen, wir spielen den Babysitter für ihre Kinder.
Ohne Ziggy, der das Krankenhaus führt, werden sie ihre Zukunft weniger zuversichtlich sehen.«
»Du schilderst ihn ja wie Mr. Perfect«, sagte Alex. »Und wir wissen beide, dass er das nicht war.«
Diesmal ließ Pauls Lächeln auch seine Augen aufleuchten.
»Nein, er war nicht vollkommen. Ein Perfektionist vielleicht, ja. Das konnte einen verrückt machen. Als wir das letzte Mal Skifahren gingen, dachte ich, ich müsste ihn eigenhändig von der Piste schleppen. Es gab eine Kurve auf der Abfahrt, die er einfach nicht richtig packte. Jedes Mal machte er etwas falsch.
Und das hieß, dass wir noch einmal hochgehen mussten. Aber man bringt doch nicht jemanden um, weil er manchmal etwas verbissen ist. Wenn ich mir gewünscht hätte, dass Ziggy aus meinem Leben verschwindet, hätte ich ihn einfach verlassen.
Verstehst du? Ich hätte ihn doch nicht umgebracht.«
»Aber du wolltest gar nicht, dass er verschwindet, das ist es doch.«
Paul biss sich auf die Lippe und starrte auf die nassen Bierringe auf dem Tisch. »Ich würde alles tun, um ihn wiederzuhaben«, sagte er leise. Alex gab ihm einen Moment Zeit, um sich zu fassen.
»Sie werden herausfinden, wer das getan hat«, sagte er schließlich.
»Meinst du? Ich wünschte, ich könnte dir zustimmen. Es geht mir immer wieder durch den Kopf, was ihr vier damals durchgemacht habt, vor vielen Jahren. Sie haben nie herausgefunden, wer das Mädchen umgebracht hat. Und alle sahen euch wegen der Sache mit anderen Augen an.« Er schaute zu Alex auf. »Ich bin nicht so stark wie Ziggy. Ich weiß nicht, ob ich damit leben kann.«
25
urch einen Tränenschleier versuchte Alex die Worte auf dem Handz
D
ettel für den Trauergottesdienst zu erkennen.
Wenn man ihn gefragt hätte, welches Musikstück ihn bei Ziggys Begräbnis zu Tränen rühren würde, hätte er wahrscheinlich Bowies »Rock and Roll Suicide« mit seiner endgültigen, trotzigen Ablehnung der Einsamkeit genannt. Aber er hatte es ohne Tränen geschafft, denn die lebendigen Bilder des jungen Ziggy, die auf eine große Leinwand am Ende des Krematoriums projiziert wurden, hatten ihm Kraft gegeben, ja, ihn sogar fast in Hochstimmung versetzt. Aber als der Schwulenchor von San
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