Echo Einer Winternacht
einer privaten Vorschau auf eine Poussin-Ausstellung hatte er Lynn aufgespürt und ihr erzählt, dass Farben seine Leidenschaft seien. Zuerst hatte sie ihn für einen etwas albernen jungen Mann gehalten, der großspurig behauptete, mit großer Kunst auf Du und Du zu stehen. Dann ging ihr auf, dass er genau das meinte, was er gesagt hatte. Nicht mehr und nicht weniger. Nicht das, was auf der Leinwand abgebildet war, war Gegenstand seiner Leidenschaft, sondern die Struktur der Substanz, mit deren Hilfe das Gemälde hergestellt wurde. Er gab ihr seine Karte und bat sie, ihm zu versprechen, dass sie ihn, wenn sie wieder ein Problem hätte, anrufen würde. Er versicherte ihr mehrmals, er werde besser sein als jeder, den sie sonst um Hilfe bat, wer immer es auch sein mochte.
Und zufällig hatte Jason an diesem Abend Glück. Lynn hatte den aufgeblasenen Trottel satt, auf den sie sich verlassen musste.
Er gehörte zur alten Edinburgher Schule, deren Mitglieder nicht aufhören konnten, sich Frauen gegenüber herablassend zu geben. Obwohl er eigentlich nur Labortechniker war, behandelte er Lynn wie eine Assistentin, deren Meinung nichts zählte. Lynn hatte es davor gegraut, wieder mit ihm zusammenzuarbeiten, besonders da sie den Auftrag für eine wichtige Restauration erwartete. Jason schien ein Geschenk des Himmels zu sein. Es kam von Anfang an nie vor, dass er mit ihr von oben herab sprach. Wenn überhaupt, gab es eher das umgekehrte Problem.
Er neigte dazu anzunehmen, dass sie ihm auf seinem Fachgebiet ebenbürtig sei, und sie wusste schon gar nicht mehr, wie oft sie ihn hatte bitten müssen, langsamer zu sprechen und sich in normalem Englisch auszudrücken. Aber das war doch unendlich viel angenehmer als die Alternative.
Als Alex und Weird mit einer Tüte Farbproben nach Hause gekommen waren, hatte Lynn zehn Minuten später schon Jason an der Strippe. Genau wie sie erwartete, hatte er wie ein Kind reagiert, das gerade erfahren hat, es dürfe den nächsten Sommer in Disneyland verbringen. »Ich habe jetzt gleich eine Besprechung, aber um zehn bin ich frei.«
Auf Alex’ Vorschlag hatte sie versucht, ihm zu sagen, sie würden sein Honorar privat bezahlen. Aber er hatte ihr Angebot von sich gewiesen. »Wozu hat man denn Freunde?«, hatte er gefragt. »Außerdem kommt mir die Autofarbe schon zu den Ohren raus. Du rettest mich davor, an Langeweile zu sterben.
Rück sie schon raus, meine Liebe.«
Das Labor war ein überraschend schönes, modernes, einstöckiges Gebäude, das auf einem eigenen Grundstück ein Stück von der Straße entfernt stand. Die Fenster lagen hoch oben an den braunen Backsteinwänden, und die Überwachungskameras waren so ausgerichtet, dass sie jeden aufnahmen, egal, aus welcher Richtung er sich näherte. Sie mussten an zwei Sicherheitstüren auf das Summen des Türöffners warten, bevor sie zur Rezeption kamen. »Ich habe schon Gefängnisse besucht, in denen die Sicherheitsvorkehrungen weniger streng waren«, lautete Weirds Kommentar. »Was machen die denn hier? Werden hier etwa Massenvernichtungswaffen hergestellt?«
»Sie erledigen Aufträge für den Obersten Gerichtshof. Und für die Verteidigung«, erklärte Lynn, als sie auf Jason warteten.
»Deshalb müssen sie zeigen können, dass Beweismaterial in ihrer Verwahrung sicher aufgehoben ist.«
»Sie analysieren also auch DNA und all so was?«, fragte Alex.
»Warum? Hast du Zweifel an deiner Vaterschaft?«, neckte ihn Lynn.
»Damit werde ich warten, bis sie sich zu einem wilden Teenager entwickelt hat«, sagte Alex. »Nein, ich bin nur neugierig.«
»Sie untersuchen DNA und Haare und Fasern ebenso wie Farbe«, antwortete Lynn. Während sie sprach, trat ein stämmiger Mann an sie heran und legte einen Arm um ihre Schulter.
»Du hast deine Kleine mitgebracht«, sagte er und beugte sich hinunter, um in die Tragetasche zu sehen. »Oh, die ist ja süß.«
Er lächelte Lynn zu. »Die meisten Babys sehen doch aus, als hätte der Hund auf ihrem Gesicht gesessen. Aber sie sieht wie ein richtiger kleiner Mensch aus.« Er richtete sich auf. »Ich bin Jason«, sagte er und blickte unsicher von Weird zu Alex. Sie stellten sich vor. Alex betrachtete das Stirling-Albion-Hemd, die Cargohose mit großen weiten Taschen und die stachelig hochstehenden Haare, deren Spitzen in einem unnatürlichen Blondton gefärbt waren. Oberflächlich betrachtet sah Jason aus, als wäre er mit einer schicken Flasche Bier in der Hand freitagabends in jedem Pub zu Hause. Aber
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