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Echo Einer Winternacht

Titel: Echo Einer Winternacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Val McDermid
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seiner Firma nahm das Team für den Versandhandel noch letzte Bestellungen von Großhändlern entgegen, die ihre Lager aufstockten und die Gelegenheit nutzten, um zusätzliche Valentinstags-, Muttertags-und Osterkarten zu bestellen. Im Warenlager würden die Mitarbeiter anfangen, sich zu entspannen, denn die schlimmste Hektik war vorbei, und ließen bei dieser Gelegenheit die Erfolge und Misserfolge der letzten Wochen Revue passieren. Und in der Buchhaltung konnte man endlich wieder lächeln. Die Verkaufszahlen dieses Jahres lagen fast acht Prozent höher als im letzten Jahr, zum Teil war das einer neuen Serie von Karten zu verdanken, die Alex selbst entworfen hatte. Obwohl Alex schon seit mehr als zehn Jahren seinen Lebensunterhalt nicht mehr mit Stiften und Tusche verdiente, steuerte er gelegentlich doch noch selbst etwas zur Produktpalette bei. Es gab nichts, was den Rest des Teams besser auf Draht hielt.
    Aber diese Karten hatte er schon im April entworfen, als die Schatten der Vergangenheit ihn noch nicht beeinträchtigten. Es war seltsam, wie sehr dieses Unbehagen an die Jahreszeit gebunden war. Sobald der Dreikönigstag vorbei und die Dekorationen eingepackt waren, war Rosie Duffs Schatten verschwunden und sein Kopf wieder klar und nicht mehr von Erinnerungen vernebelt. Er würde wieder Freude am Leben haben können. Jetzt aber musste er es einfach durchstehen. Im Lauf der Jahre hatte er verschiedene Methoden ausprobiert, um dies alles zu verdrängen. Am zweiten Jahrestag hatte er sich bis zur Besinnungslosigkeit betrunken. Bis heute wusste er weder, in welcher Bar er gelandet war, noch, wer ihn in seine Einzimmerwohnung in Glasgow zurückgebracht hatte. Aber damit hatte er nur erreicht, dass ihn in den schweißnassen, angstvollen Träumen dieser Nacht, aus denen er nicht erwachen konnte, ein verrücktes Kaleidoskop von Rosies ironischem Lächeln und ihrem sorglosen Lachen verfolgte. Im darauffolgenden Jahr hatte er ihr Grab auf dem Westfriedhof am Stadtrand von St. Andrews besucht. Er hatte gewartet, bis es dämmerte, um zu vermeiden, dass irgendjemand sein Gesicht sah. Den unauffälligen klapprigen Ford Escort hatte er so nah wie möglich am Tor geparkt, zog seine Tweedmütze bis über die Augen, stellte den Kragen hoch und schlich im feuchten Halbdunkel umher. Das Problem war, dass er nicht genau wusste, wo Rosies Grab lag. Er hatte nur die Bilder vom Begräbnis gesehen, die die Lokalzeitung auf der Titelseite groß aufgemacht hatte, und daraus entnommen, dass es irgendwo im hinteren Teil des Friedhofs war.
    Verstohlen und mit gesenktem Kopf ging er zwischen den Grabsteinen umher und fühlte sich wie ein Spinner. Er wünschte, er hätte eine Taschenlampe mitgebracht, aber dann fiel ihm ein, dass es keine bessere Methode gäbe, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Als die Straßenlampen angingen, brachten sie gerade genug Licht, dass er die meisten Inschriften lesen konnte. Alex hatte schon aufgeben wollen, als er es endlich in einer abgelegenen Ecke direkt an der Mauer fand. Auf einem einfachen schwarzen Granitblock sahen die goldenen Buchstaben noch so frisch aus wie an dem Tag, an dem sie eingemeißelt wurden. Zuerst flüchtete sich Alex in seine Rolle als Künstler und befasste sich mit dem, was er vor sich sah, als einem ausschließlich ästhetischen Objekt. In dieser Hinsicht stellte es ihn zufrieden. Aber er konnte sich nicht lange vor der Bedeutung der Worte drücken, die er nur als Formen im Stein zu sehen versucht hatte. »Rosemary Margaret Duff, geboren 25. Mai 1959. Grausam aus unserer Mitte gerissen am 16. Dezember 1978. Unsere liebende Tochter und Schwester hat uns für immer verlassen. Sie ruhe in Frieden.« Alex erinnerte sich, dass die Polizei Geld gesammelt hatte, um den Grabstein zu bezahlen. Sie mussten einiges zusammenbekommen haben, dass sie sich einen so langen Text leisten konnten, dachte er und versuchte immer noch, sich nicht mit dem Sinn dieser Worte abzugeben.
    Etwas anderes, was sich unmöglich übersehen ließ, waren die vielen Blumen, die am Fuß des Steines niedergelegt worden waren. Es mussten wohl ein Dutzend Sträuße und Buketts sein, einige davon in den niedrigen Vasen, die Blumenhändler zu diesem Zweck verkaufen. Andere lagen auf dem Gras und erinnerten eindringlich daran, in wie vielen Herzen Rosie Duff noch lebendig war.
    Alex knöpfte seinen Mantel auf und nahm eine einzelne weiße Rose heraus, die er mitgebracht hatte. Er kniete sich hin, um sie unauffällig

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