Echo gluecklicher Tage - Roman
winkten. Die aufgewühlte See und der Himmel waren düster dunkelgrau, aber die Musiker der Kapelle spielten in ihren roten Jacketts fröhlich auf dem Kai, und die bunten Bänder, die auf das Schiff geworfen wurden, sorgten trotz des trostlosen Märztages für Volksfeststimmung.
Mrs Bruce, Kathleen und Mr Edward hatten sich aus der drängenden Menge in einen offenen Schuppen zurückgezogen, aber sie winkten immer noch wie wild, und die grünen Federn an Kathleens Hut wippten im Wind.
»Sie sollten jetzt gehen. Sonst holen sie sich noch den Tod«, schrie Beth Sam zu. Durch den Wind, die Kapelle und die Leute, die sich um sie herum etwas zuriefen, konnte sie sich selbst kaum denken hören.
Was sie eigentlich meinte, war, dass sie es nicht einen Moment länger ertragen konnte, sie anzusehen, denn sie standen für alles, was sie nicht gerne aufgeben wollte. Sie zwang sich natürlich zu einem fröhlichen Lächeln, aber jetzt, wo sie bis auf die Knochen fror, fiel es ihr zunehmend schwerer, Freude und Aufregung vorzutäuschen. Sie wollte wieder mit Molly auf dem Schoß in der warmen Küche am Falkner Square sitzen. Sie wollte Liverpool nicht verlassen.
Aber sie konnte nichts davon zu Sam sagen, denn seine ehrliche Aufregung reichte für sie beide. Seine Wangen und seine Nase waren rot vor Kälte, aber sein breites Lächeln zeigte, dass für ihn sein heiß ersehnter Traum endlich begonnen hatte.
»Da ist Sally!«, jubelte er und deutete in die winkende Menge. »Sie steht da bei dem Kran! Die in dem roten Mantel. Ich hätte nicht gedacht, dass sie sich genug aus mir macht, um mich zu verabschieden.«
Die Frau zu sehen, von der ihr Bruder in den letzten beiden Wochen so oft gesprochen hatte, lenkte Beth von ihrem Unglück ab. Einer von Sams Freunden im Adelphi hatte ihm die Varietétänzerin vorgestellt. Selbst aus der Distanz von rund sechzig Metern konnte Beth sehen, dass sie genau so war, wie sie es erwartet hatte – ein schwarzhaariges, kurviges leichtes Mädchen mit viel Schminke im Gesicht.
Seit er sie kennengelernt hatte, war Sam um drei Uhr morgens nach Hause gekommen, hatte nach ihrem billigen Parfüm gerochen, und seine Lippen waren vom Küssen geschwollen gewesen. Beth hatte manchmal heimlich gehofft, dass Sally für ihn attraktiver sein würde als Amerika und dass er seine Pläne aufgab.
»Liebst du sie?«, fragte Beth, die erneut gezwungen war zu schreien.
Er wandte sich um und grinste schelmisch. »Das habe ich, während ich mit ihr zusammen war, aber es gibt Hunderte von Mädchen wie sie in New York.«
Als Beth den Glanz in seinen Augen sah, wurde ihr klar, dass er mit der Frau viel mehr gemacht hatte, als sie nur zu küssen, und sie hoffte, dass er sie nicht schwanger zurückließ. Sie wollte eigentlich mit ihm schimpfen, aber sie war ein bisschen neidisch darauf, dass er diese mysteriöse Sache bereits kennengelernt hatte, die ihre Mutter Leidenschaft genannt hatte, deshalb wusste sie nicht, was sie sagen sollte.
Glocken ertönten, und eine laute Stimme verkündete, dass alle, die nicht mitfahren würden, das Schiff sofort verlassen sollten, deshalb war jeder Kommentar ohnehin nicht mehr möglich, aber während Beth ihrem Bruder zusah, der winkte und Kusshände warf, bemerkte sie zwei elegant gekleidete junge Damen, die ein paar Meter weiter an der Reling standen und ihn ebenfalls beobachteten. Ihr wurde bewusst, dass ihr hübscher Bruder vermutlich unter den zahlreichen Frauen auf dieser Reise viel Aufsehen erregen würde.
Das ganze Schiff war jetzt mit bunten Bändern bedeckt, und die Aufregung nahm spürbar zu, als die Mannschaft die Gangway einzog und das Ablegen vorbereitete. An Deck weinten genauso viele Menschen wie auf dem Kai. In der Vergangenheit hatte Beth solche Szenen schon ein Dutzend Mal beobachtet, aber sie hatte nur die Trauer derjenigen bemerkt, die zurückblieben. Es war ihr nie in den Sinn gekommen, dass die Leute auf dem Schiff sich nicht auf ihre Reise freuen könnten. Jetzt wusste sie es besser, denn es zerriss ihr das Herz bei dem Gedanken, Molly zurückzulassen, und ihr wurde klar, dass viele ihrer Mitreisenden ganze Familien zurückließen, nicht nur ein kleines Mädchen, und dass sie vielleicht, genau wie sie, befürchteten, sie niemals wiederzusehen.
Am Morgen war sie besonders früh aufgestanden und ins Haus geschlichen, um Molly beim Schlafen zuzusehen. Mrs Langworthy hatte das Zimmer ihres Schwiegervaters renovieren lassen, sobald Beth zugestimmt hatte, Molly bei
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