Echo gluecklicher Tage - Roman
wütend ermahnte, dass sie im Weg standen.
Sam ließ sich von den Regeln nicht aufhalten. Mit seinem Charme, seinem guten Aussehen und seinen guten Manieren gelang es ihm, sie zu umgehen. Irgendwie schaffte er es, eine junge Dame namens Annabel aus der zweiten Klasse kennenzulernen, und verbrachte einen Teil jedes Tages mit ihr und ihrer Familie an verschiedenen Orten auf dem Schiff; er aß sogar mit ihnen und vermied so das widerliche Stew, das den Passagieren des Zwischendecks vorgesetzt wurde.
Beth wäre eifersüchtig gewesen, wenn er ihr nicht Kuchen und Früchte zugesteckt hätte. Jack war beeindruckt von Sams kaltschnäuziger Dreistigkeit und von der Art und Weise, wie er es schaffte, damit durchzukommen.
»Wenn ich durch eine der Absperrungen gehen würde, dann wüssten die sofort, wo ich herkomme«, sagte er mit einem schiefen Grinsen. »Ich könnte vielleicht einem Steward das Jackett klauen und mit einem Tablett da drinnen rumlaufen. Aber sobald ich den Mund aufmache, würden die mich erwischen.«
»Man sagt, dass es in Amerika keine Klassenunterschiede gibt«, erklärte Beth. »Wenn man sich besser stellen will, dann muss man einfach nur hart arbeiten.«
Beth war bis zum Tod ihrer Mutter nicht klar gewesen, dass es so etwas wie Klassenunterschiede überhaupt gab. Davor war sie nur mit der Mittelschicht zusammengekommen, respektablen und fleißigen Leuten, genau wie ihre Familie. Sie hatte natürlich gewusst, dass es sehr arme Menschen gab; sie sah sie täglich auf der Straße betteln. Aber die Reichen in ihren großen Häusern mit ihren Dienern und ihren schicken Kutschen waren so weit entfernt von ihr gewesen, dass sich ihre Lebenswelten gar nicht berührt hatten.
Arbeiten zu gehen und später am Falkner Square zu wohnen hatte Beths Sicht jedoch verändert. Sie war eine Dienstbotin geworden und hatte die Reichen aus nächster Nähe beobachtet, und dadurch war ihr der riesige, unüberwindliche Graben bewusst geworden, der zwischen ihnen verlief. Die Langworthys hatten ihr nie das Gefühl gegeben, ihnen unterlegen zu sein, aber auf der Reise bekam sie genau das deutlich zu spüren, nur weil sie sich kein besseres Ticket leisten konnte.
Nachts, wenn sie im Bett lag und versuchte, das Stöhnen der Kranken um sich herum und den immer präsenten Gestank nach Erbrochenem auszublenden, dachte sie über die versprochene klassenlose Gesellschaft in Amerika nach. Natürlich würde es dort auch so etwas wie eine Hierarchie geben, aber wenn sie auf Reichtum fußte und nicht auf Herkunft und Bildung, dann konnten Sam und sie vielleicht, wenn sie hart arbeiteten, einen Status wie den der Langworthys erreichen.
11
»Land in Sicht!«
Bei dem aufgeregten Ruf eines ihrer Mitreisenden aus dem Zwischendeck holte Beth sofort ihren Mantel und reihte sich in die vielen Leute ein, die an Deck drängten. Es war früher Nachmittag, acht Tage nach ihrer Abreise aus Liverpool, und es kam ihr komisch vor, dass selbst die, die die ganze Reise seekrank gewesen waren, sich plötzlich stark genug fühlten aufzustehen.
Es regnete heftig, und die Sicht war schlecht, und alles, was Beth erkennen konnte, war eine etwas dunklere Linie am Horizont, doch das schien keinen zurück in die Wärme unter Deck zu bewegen. Um sich herum konnte sie hören, wie die Leute sich gegenseitig fragten, wie lange es noch dauern würde, bis sie ankamen, und dann diskutierten, was sie als Erstes tun würden, sobald die Einwanderungsformalitäten erledigt waren.
Nachdem sie fast die ganze Reise über das Deck für sich allein gehabt hatte, fühlte es sich komisch an, von so vielen Menschen bedrängt zu werden. Sam war nicht da – sie nahm an, dass er bei Annabel war –, und sie konnte auch Jack nirgends sehen. Um nicht zerdrückt zu werden und um sich einen Platz zu suchen, von wo aus sie einen Blick auf das Land erhaschen konnte, bahnte sie sich einen Weg durch die Menge bis zu der Absperrung, die sie von der ersten Klasse trennte.
Dort, direkt auf der anderen Seite der Absperrung, stand zu ihrer Überraschung Clarissa mit einem Gentleman unter einem Regenschirm zusammen.
Beth hatte sie im Dunkeln zwar nur kurz gesehen, aber sie wusste ohne jeden Zweifel, dass es Clarissa war, sogar noch bevor sie sie sprechen hörte. Sie trug einen langen, hellbraunen Pelzmantel und einen passenden Hut. Ein paar blonde Haarsträhnen flatterten im Wind um ihr Gesicht.
Beth sah weiter geradeaus, aber ihre Augen huschten zur Seite, um die Frau zu betrachten. Sie
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