Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Echo gluecklicher Tage - Roman

Echo gluecklicher Tage - Roman

Titel: Echo gluecklicher Tage - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lesley Pearse
Vom Netzwerk:
war das, was die meisten Leute eine klassische Schönheit nennen würden: Sie hatte ein ovales Gesicht, Porzellanhaut, eine perfekte gerade Nase und hohe Wangenknochen. Beth konnte ihre Augen nicht genau sehen, aber sie nahm an, dass sie blau waren. Doch ihr Aussehen war nicht so interessant wie die Art, wie sie mit ihrem Begleiter umging. Er hielt den Regenschirm mit einer Hand über ihren Kopf, aber sie hatte sich besitzergreifend bei ihm untergehakt und blickte ihm jedes Mal, wenn er etwas sagte, direkt in die Augen.
    Beth nahm an, dass er ein weiterer Verehrer war, weil er nicht zu dem Bild des alten, korpulenten Mannes passte, das sie sich in Gedanken von dem Ehemann dieser Frau gemacht hatte. Er war um die vierzig und groß, mit einem kleinen Kinnbart und einem gepflegten Schnurrbart und so aufrecht und schlank wie ein Gardist in seinem schicken dunkelblauen Mantel mit Astrachan-Kragen. Ungewöhnlicherweise trug er keinen Hut, und sein braunes Haar war wellig und voll. Obwohl er nicht so umwerfend attraktiv war wie der andere Mann, den Beth gesehen hatte, war sein Gesicht doch hübsch und sympathisch, und er lachte über etwas, das Clarissa zu ihm sagte.
    »Ich fürchte, mir fliegt gleich der Regenschirm weg«, hörte Beth ihn sagen, als ein Windstoß diesen fast umstülpte und er sich anstrengen musste, ihn nicht zu verlieren.
    »Ich habe dir doch gesagt, mein Schatz, dass es ein Fehler ist, ihn mit nach draußen zu nehmen«, erwiderte Clarissa und lächelte ihn liebevoll an. »Regenschirme gehören nicht auf Schiffe, sondern in die Stadt.«
    »Soll ich meine wunderschöne Frau nass werden lassen?«, rief er lächelnd.
    Beth war so überrascht darüber, dass dies der betrogene Ehemann war, dass sie fast den Kopf herumriss und das Paar anstarrte, aber sie beherrschte sich gerade noch rechtzeitig und sah weiter geradeaus zum Horizont.
    »Es wäre sicher besser gewesen, wenn wir uns das Land vom Salon aus angesehen hätten, so wie ich es vorgeschlagen hatte«, hörte sie Clarissa sagen.
    »Vielleicht besser, aber hier draußen ist es doch viel aufregender«, erwiderte ihr Mann und winkte mit einer Hand den Passagieren des Zwischendecks. »Sieh sie dir an, wie sie beim ersten Anblick von Amerika schreien.«
    Beth wusste, es hätte sie abstoßen müssen, dass diese Frau so wenig von ehelicher Treue hielt. Offensichtlich war ihr Ehemann kein Monster, und sie hatte nur mit den Gefühlen des hübschen jungen Mannes gespielt. Doch sie war eher enttäuscht und traurig, dass der andere Mann sehr verletzt sein würde.
    Ein paar Minuten später lichteten sich Nebel und Regen gerade genug, um das Land undeutlich erkennen zu können, und das lenkte Beth von Clarissa und ihrem Liebhaber ab.
    Zu ihrer Enttäuschung erfuhren die Passagiere, dass sie heute Abend noch keinen Fuß auf New Yorker Boden setzen würden, denn das Schiff musste im Hudson River vor Anker liegen, bis der Mann von der Einwanderungsbehörde an Bord kam. Es hieß, er müsse überprüfen, ob es Krankheiten auf dem Schiff gebe, und dann – vorausgesetzt, es war alles in Ordnung – würde man ihnen am folgenden Morgen einen Liegeplatz in den New Yorker Docks zuweisen.
    Die ruhigere See und die Freude darüber, dem Ziel so nah zu sein, heilten die Seekranken sofort, und alle wollten, dass ihr letzter Abend ein denkwürdiger war. Selbst Miss Giles, die mit Adlerlaugen über die ihr anvertrauten Frauen gewacht hatte, ließ in ihrer Wachsamkeit nach.
    Als der übliche Kessel mit Stew zum Abendessen heruntergebracht wurde, kam es fast zu Handgreiflichkeiten, weil alle zuerst etwas haben wollten. Einige Passagiere hatten seit Liverpool nicht mehr als ein paar Löffel dünnen Haferschleim und trockenes Brot gegessen und waren jetzt schrecklich hungrig.
    Beth traute ihren Augen kaum, als sie sah, wie die Leute über die graubraune, fettige Brühe mit dem wenigen darin herumschwimmenden Gemüse und den extrem knorpeligen Fleischstücken herfielen. Sie hatte sich jeden Abend gezwungen, etwas von dem ekelerregenden Gebräu zu essen, weil es nichts anderes gab, aber sie sahen alle aus, als würden sie es wirklich mögen.
    Als die Mahlzeit vorüber war, wurden die Geige, die Löffel und die Mundorgeln herausgeholt, und das Singen, Tanzen und Trinken begann. Jack hatte eine Flasche Whiskey und bot sie Beth an. Sie nahm einen Schluck und zuckte zusammen, als er in ihrer Kehle brannte, doch sie war entschlossen, etwas zu wagen, und nahm noch einen Schluck, den sie einfacher

Weitere Kostenlose Bücher