Echo Park
Flagge an der Rückwand gerichtet. Er hatte nicht dazu gedient, feuchte Luft nach draußen zu blasen, sondern frische Luft nach drinnen.
Bosch machte zwei Schritte auf die Flagge zu. Er packte sie an der Seite und riss sie von der Wand.
Dahinter kam die Öffnung eines unterirdischen Gangs zum Vorschein. Aus der Wand waren etwa ein Dutzend Mauersteine herausgelöst worden, und hinter der 1,20 auf 1,20 in großen Öffnung führte ein Tunnel in den Hügel hinein.
Bosch ging in die Hocke, um von rechts in den dunklen Gang zu spähen. In etwa zehn Meter Entfernung war ein schwacher Lichtschein zu erkennen. Allem Anschein nach machte der Gang dort eine Biegung, und dahinter befand sich eine Lichtquelle.
Als Bosch sich weiter vorbeugte, konnte er ein Geräusch aus dem Tunnel dringen hören. Ein leises Wimmern. So entsetzlich das Geräusch auch war, hatte es zugleich etwas Erlösendes. Es hieß, die von Waits entführte Frau war ungeachtet aller Schrecken, die sie durchlebt hatte, noch am Leben.
Bosch griff nach einer der Taschenlampen, die auf der Werkbank hinter ihm lagen. Er knipste sie an. Die Batterie war leer. Er probierte eine andere aus und bekam einen schwachen Lichtstrahl. Das musste genügen.
Er leuchtete in den Tunnel und stellte fest, dass er bis zu der Biegung verlassen war. Er machte einen Schritt auf die Öffnung zu.
»Warte, Harry!«
Er drehte sich um und sah Rachel in der Tür stehen.
»Es ist bereits Verstärkung unterwegs!«, flüsterte sie.
Bosch schüttelte den Kopf.
»Sie ist da drinnen. Sie lebt.«
Er drehte sich wieder um und leuchtete in den Tunnel. Bis zur Biegung war nichts zu sehen. Um Strom zu sparen, knipste er die Lampe aus. Er blickte noch einmal zu Rachel zurück, dann machte er den ersten Schritt in das Dunkel hinein.
NEUNUNDZWANZIG
Gleich hinter dem Eingang des Tunnels hielt Bosch noch einmal kurz inne, um seine Augen an die Dunkelheit zu gewöhnen. Dann tastete er sich vorsichtig vorwärts. Er musste nicht kriechen. Der unterirdische Gang war hoch genug, um gebückt darin gehen zu können. In der rechten Hand die Taschenlampe, in der linken die Pistole, behielt er unablässig den schwachen Lichtschein im Auge. Das Weinen der Frau wurde lauter, als er sich weiter voranbewegte.
Nach drei Metern wurde der modrige Geruch, der ihm schon am Eingang des Tunnels aufgefallen war, zu einem intensiven Verwesungsgestank. So ekelhaft die Ausdünstungen auch waren, für Bosch waren sie nichts Neues. Vor inzwischen fast vierzig Jahren war er bei der Army eine sogenannte Tunnelratte gewesen und hatte an über hundert Einsätzen in den unterirdischen Gängen Vietnams teilgenommen. Der Feind hatte in den Lehmwänden der Tunnels manchmal seine Toten begraben. Das verbarg sie zwar vor den Blicken der Lebenden, aber den Verwesungsgeruch konnte es nicht überdecken. Und wenn man diesen Gestank einmal in der Nase gehabt hatte, konnte man ihn nie mehr vergessen.
Bosch wusste, dass er auf etwas Schreckliches zuging. Irgendwo da vorne in diesem Tunnel lagen die vermissten Opfer von Raynard Waits. Hierher war Waits an dem Abend unterwegs gewesen, an dem er in seinem Kastenwagen angehalten worden war. Und Bosch konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass auch er die ganze Zeit zu diesem Ort unterwegs gewesen war. Hinter ihm lagen viele Jahre und viele Meilen, aber plötzlich kam es ihm so vor, als hätte er die unterirdischen Gänge nie wirklich hinter sich gelassen, als hätte er sein ganzes Leben lang nichts anderes getan, als sich durch Dunkelheit und Enge langsam zu einem flackernden Licht voranzutasten. Er wusste, er war damals, jetzt und in alle Zukunft eine Tunnelratte.
Seine Oberschenkelmuskeln schmerzten von der Anstrengung, sich gebückt vorwärtszubewegen. Der Schweiß begann in seinen Augen zu brennen. Und je mehr er sich der Biegung des Gangs näherte, umso deutlicher wurde, dass sich das Licht ständig veränderte. Daraus schloss er, dass es vom Flackern einer offenen Flamme herrührte. Kerzenlicht.
Eineinhalb Meter vor der Biegung hielt Bosch an und ging in die Hocke, um zu lauschen. Hinter sich glaubte er Sirenen zu hören. Verstärkung war im Anmarsch. Er versuchte, sich wieder auf die Geräusche im Tunnel vor ihm zu konzentrieren, aber von dort kam nur das Weinen einer Frau.
Bosch richtete sich wieder auf und schlich weiter. Fast im selben Moment ging das Licht vor ihm aus, und das Weinen nahm eine neue Intensität und Dringlichkeit an.
Bosch blieb stehen. Es ertönte
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