Echo Park
der Durchsicht der 51er-Formulare stach ihm nichts ins Auge, was die einzelnen Ermittlungsschritte, die vernommenen Personen oder die eingegangenen Anrufe bedeutsamer erscheinen ließ als zu dem Zeitpunkt, da diese Dinge in die Chronologie eingetragen worden waren.
Plötzlich ließ ihn etwas stutzen, das er in der Chronologie vermisste. Hastig blätterte er zum 51er für den 29. September 1993 zurück und suchte nach dem Vermerk über den Anruf, den Jerry Edgar von Robert Saxon erhalten hatte.
Er war nicht da.
Bosch beugte sich vor, um sich das Dokument genauer anzusehen. Wie war das möglich? Im Original des Mordbuchs hatte der Vermerk gestanden: Raynard Waits’ falscher Name, Robert Saxon. Das Datum des Eintrags war der 29. September 1993, und als Zeitpunkt des Anrufs war 18.40 Uhr angegeben. Olivas hatte den Vermerk bei der Durchsicht der Akte entdeckt, und Bosch hatte ihn bei dem Treffen in O’Sheas Büro mit eigenen Augen gesehen. Und er hatte ihn sich sehr genau angesehen, denn es handelte sich dabei um die Bestätigung eines Versehens, das es Waits ermöglicht hatte, dreizehn Jahre länger auf freiem Fuß zu bleiben und weiterzumorden.
Aber in Boschs Kopie des Mordbuchs fehlte dieser Eintrag.
Was, zum Teufel, hatte das jetzt wieder zu bedeuten?
Zuerst konnte sich Bosch keinen Reim darauf machen. Er hatte die Kopie der Chronologie vier Jahre zuvor angefertigt, nachdem er den Entschluss gefasst hatte, den Dienst zu quittieren. Damals hatte er sich insgeheim die Mordbücher einer Handvoll offener Fälle kopiert, die ihm keine Ruhe gelassen hatten. Seine Pensionsfälle. Er hatte vorgehabt, sie sich nach Lust und Laune und auf eigene Faust noch einmal vorzunehmen und sie zu lösen, bevor er seine Mission als erfüllt betrachten konnte und sich in Mexiko mit einer Angelrute in der einen Hand und einem Corona in der anderen einen schönen Lenz machen würde.
Aber dann war es doch anders gekommen. Bosch war klar geworden, dass sich seine Mission immer noch am besten mit einer Dienstmarke erfüllen ließ, und kehrte in den Polizeidienst zurück. Nachdem er mit Rider in die Abteilung Offen-Ungelöst versetzt worden war, war eines der ersten Mordbücher, die er sich aus dem Archiv geholt hatte, der Gesto-Fall gewesen. Das Mordbuch, mit dem er damals gearbeitet hatte, war das Original, also diejenige Ermittlungsakte, die jedes Mal, wenn er oder sonst jemand sich damit befasste, auf den neuesten Stand gebracht wurde. Was er dagegen jetzt vor sich liegen hatte, war eine Kopie, die in seinem Kleiderschrank gelegen hatte und vier Jahre lang nicht mehr aktualisiert worden war. Trotzdem – wie konnte das eine Mordbuch einen Vermerk von 1993 enthalten und das andere nicht?
Logisch betrachtet gab es darauf nur eine einzige Antwort.
Die Original-Ermittlungsunterlagen waren gefälscht worden. Der Vermerk mit dem Namen Robert Saxon war erst nach dem Zeitpunkt, zu dem Bosch das Mordbuch kopiert hatte, eingefügt worden. Demzufolge betrug das Zeitfenster, in dessen Verlauf der gefälschte Eintrag hätte hinzugefügt werden können, etwas mehr als vier Jahre. Aber der Instinkt sagte Bosch, dass es wohl eher vor wenigen Tagen geschehen war als schon vor Jahren.
Nur wenige Tage zuvor hatte Freddy Olivas ihn angerufen und nach dem Mordbuch gefragt. Bosch hatte es ihm ausgehändigt, und Olivas war derjenige gewesen, der den Robert-Saxon-Eintrag entdeckt hatte. Olivas hatte alles an den Tag gebracht.
Bosch blätterte die Chronologie durch. Fast alle Seiten mit Eintragungen zu den ursprünglichen Ermittlungen waren bis unten hin voll mit Vermerken, die mit Zeitangaben versehen waren. Nur auf der Seite für den 29. September war unten noch etwas Platz. Es wäre Olivas also möglich gewesen, diese Seite herauszunehmen, den Saxon-Eintrag darauf zu tippen, das Blatt wieder einzuheften und dann so zu tun, als wäre er bei der Durchsicht der Akte auf diese vermeintliche Verbindung zwischen Waits und Gesto gestoßen. 1993 hatten Bosch und Edgar im Bereitschaftsraum der Hollywood Division die 51er noch mit Schreibmaschine geschrieben. Inzwischen geschah das alles per Computer, aber in den meisten Polizeistationen gab es für Cops der alten Schule, die sich – wie Bosch – nicht mit dem Computer anfreunden konnten, immer noch einige Schreibmaschinen.
In Bosch machte sich eine Mischung aus tiefer Erleichterung und Wut breit. Die Last des schlechten Gewissens über das Versehen, das ihm und Edgar angeblich unterlaufen war, fiel
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