Echo Park
schlagartig von ihm ab. Edgar und ihn traf keine Schuld, und er musste seinem ehemaligen Partner so schnell wie möglich Bescheid sagen. Wegen seiner wachsenden Wut darüber, von Olivas angeschwärzt worden zu sein, konnte Bosch seine Erleichterung allerdings kaum genießen. Er stand auf und verließ das Abteil. Er trat aus dem Lesesaal in die Rotunde der Bibliothek, um die sich hoch oben an der kreisförmigen Wand ein Mosaik zog, das die Gründungsgeschichte von Los Angeles darstellte.
Am liebsten hätte Bosch losgebrüllt und so den Dämon ausgetrieben, aber er blieb still. Ein Wachmann durchquerte rasch das hallende Gewölbe. Vielleicht war er unterwegs, um irgendwo zwischen den Regalen einen Bücherdieb oder einen Exhibitionisten zu schnappen. Bosch sah ihm hinterher und kehrte dann an seine eigene Arbeit zurück.
Als er wieder in dem kleinen Abteil saß, ging er noch einmal in Ruhe alles durch, was geschehen war. Olivas hatte sich am Mordbuch zu schaffen gemacht und nachträglich einen zwei Zeilen langen Vermerk in die Chronologie eingetragen, der Bosch glauben lassen sollte, dass ihm ganz zu Beginn der Ermittlungen ein schwerwiegender Fehler unterlaufen war. Der Vermerk besagte, dass ein Robert Saxon bei der Polizei angerufen hatte, um zu melden, dass er Marie Gesto am Nachmittag ihres Verschwindens im Mayfair Supermarkt gesehen hatte.
Das war alles. Olivas war es nicht um den Inhalt des Anrufs gegangen. Es war die Person des Anrufers. Aus irgendeinem Grund hatte Olivas Raynard Waits in das Mordbuch einschmuggeln wollen. Warum? Damit Bosch sich aus schlechtem Gewissen im laufenden Ermittlungsverfahren im Hintergrund hielt und Olivas das Sagen hatte?
Von dieser Erklärungsmöglichkeit kam Bosch rasch wieder ab. Olivas hatte ohnehin schon die Oberhand gehabt. Er war im Fall Waits der zuständige Ermittler, und daran hätten Boschs Ansprüche auf den Fall Gesto nichts geändert. Bosch durfte zwar mitfahren, aber er saß nicht am Steuer. Dort saß Olivas, und deswegen wäre es nicht nötig gewesen, den Namen Robert Saxon ins Spiel zu bringen.
Dafür musste es einen anderen Grund geben.
Bosch dachte eine Weile nach, gelangte aber zu keiner anderen Erklärung, als dass Olivas aus irgendeinem Grund eine Verbindung zwischen Waits und Gesto hatte herstellen wollen. Indem er den falschen Namen des Mörders nachträglich ins Mordbuch einfügte, ging er dreizehn Jahre zurück und brachte die beiden unübersehbar in Zusammenhang.
Allerdings hatte Waits die Ermordung Gestos sowieso gestehen wollen. Einen stärkeren Zusammenhang als ein freiwillig abgelegtes Geständnis konnte es gar nicht geben. Er hatte sich sogar bereiterklärt, die Polizei zu ihrer Leiche zu führen. Im Vergleich dazu hatte der Vermerk in der Chronologie nur sekundäre Bedeutung. Warum also hatte ihn Olivas nachträglich hinzugefügt?
Bosch fand keine schlüssige Erklärung, weshalb Olivas sich einem solchen Risiko aussetzen sollte. Aus scheinbar nebensächlichen Gründen hatte er das Originalprotokoll der Mordermittlungen gefälscht. Er hatte in Kauf genommen, dass Bosch den Schwindel aufdecken und ihn deswegen zur Rede stellen würde. Und er hatte riskiert, dass der Schwindel eines Tages von einem cleveren Anwalt wie Maury Swann vor Gericht aufgedeckt würde. Und das alles, obwohl er wusste, dass sich Waits durch sein Geständnis ohnehin unauflöslich mit dem Fall in Verbindung brächte.
Inzwischen war Olivas jedoch tot und konnte keine Auskunft mehr darüber erteilen. Es gab niemanden, der die Frage nach dem Warum beantworten konnte.
Außer vielleicht Raynard Waits.
» Was wird jetzt aus deinem miesen Kuhhandel?«
Und Rick O’Shea.
Bosch ließ sich alles noch einmal durch den Kopf gehen, und plötzlich kam es ihm. Schlagartig wurde ihm klar, warum Olivas dieses Risiko eingegangen war und den Geist von Raynard Waits in das Mordbuch von Marie Gesto geschmuggelt hatte. Er sah es mit einer Deutlichkeit, die keine Zweifel mehr zuließ.
Raynard Waits hatte Marie Gesto nicht umgebracht.
Bosch sprang auf und raffte die Unterlagen zusammen. Sie mit beiden Händen umklammernd, eilte er durch die Rotunde zum Ausgang. Der Hall seiner Schritte folgte ihm durch den großen Raum wie eine Menschenmenge, die ihm dicht auf den Fersen war. Er blickte hinter sich, aber da war niemand.
ZWEIUNDZWANZIG
In der Bibliothek hatte Bosch jedes Zeitgefühl verloren. Er verspätete sich. Rachel saß bereits an ihrem Tisch und wartete auf ihn. In den Händen hielt
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