Echt? In der DDR gab's mehrere Parteien? - Ein Ossi und ein Wessi beginnen einen Dialog (German Edition)
Flüchtlinge - Wer hat euch denn gerufen?
Christian: Der Alltag in der DDR war bestimmt von Arbeit und dem ständigen Jagen nach Konsumgütern, die es gerade nicht gab. Natürlich wurde, so wie es die Menschen auch heute tun, immer mit der besseren zurückliegenden Zeit verglichen. Ich kann mich gut daran erinnern, wie meine Mutter sich bei einer Arbeitskollegin darüber beklagte, dass ich noch nie ein Kinderzimmer hatte. Wir wohnten in einer Wohnung mit einer winzigen Küche, in der zumindest im Winter die blanke Feuchtigkeit auf dem Ölsockel stand. Den musste ich im Herbst und im Frühjahr streichen, damit die schwarze Gammelschicht wenigstens für die nächsten zwei bis drei Monate verschwunden war. Dann hatten wir ein Wohnzimmer, in das die obligatorische Anbaureihe gehörte. Sessel, Sofa, Tisch und das Zimmer war voll. Dann gab es ein Schlafzimmer, in dem ich mir eine Ecke reserviert hatte, in der ich meine Bücher aufgestapelt hatte. Ich musste aber aufpassen, berührten sie die Zimmerwand, begannen auch die Bücher zu schimmeln, so feucht waren die Wände.
Daniel: Bei uns im Altbau war es nicht ganz so schlimm. Durch die historischen Fenster hat es gezogen wie Hechtsuppe und durch die Küche verlief regelmäßig eine Ameisenstraße, obwohl wir im ersten Stock lebten. Aber vergleichen kann man das natürlich nicht. Die Wohnung war groß genug. Ich hatte mein eigenes Kinderzimmer. Das Bad war bei uns sehr klein, dafür gab es noch eine separate Toilette. Vor hundert Jahren war dort bestimmt die Abstellkammer. Grundsätzlich herrschten bei uns in der Region, durch die großen Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg und die vielen Neubauten, eher sehr gute Wohnverhältnisse vor.
Christian: Erzählte meine Mutter ihrer Arbeitskollegin, dass sie in ihrer Heimat Bessarabien ein Riesenhaus hatten und einen Weinberg und Felder dazu, wurde sie oft ausgelacht. Einige glaubten ihr dies nicht und wieder andere meinten: "Warum sind Sie denn hier hergekommen? Dann sind Sie ja ein Flüchtling?“
Wenn ich überlege, wie oft ich in meiner Schulzeit hören musste, wie schlimm das Hitlerregime war und was es alles verbrochen hatte, dann verstand ich nicht, warum eine 1955 aus der Sowjetunion entlassene Deutsche nicht ihre Lebensgeschichte erzählen durfte. Von der Aktion "Heim ins Reich" habe ich nie zu DDR-Zeiten etwas gehört. Du vielleicht in deinem freiheitlich-demokratischem Land?
Daniel: Die Geschichte des Dritten Reiches war kein Geheimnis bei uns. Auch über "Flüchtlinge", wie du das nennst, durften wir sprechen. Der offizielle Begriff bei uns war wohl "Heimatvertriebene". Im Westen gab es ja diese ganzen Vertriebenen-Verbände, die richtig öffentlich davon träumen durften, die verlorenen Gebiete wieder an Deutschland anzugliedern.
Bei mir waren alle meine vier Großeltern Vertriebene. Das Thema war mir also bewusst. Meine Großeltern haben sich nicht in diesen Verbänden engagiert. Meine Großeltern väterlicherseits hatten sich, glaube ich, mit der Tatsache abgefunden, dass es ist, wie es ist, und sie nun in Süddeutschland wohnten – nicht im Sudetenland. Meine Großeltern mütterlicherseits haben der verlorenen Heimat in Westpreußen und Danzig hinterher getrauert, konnten aber erst Anfang der Siebziger das erste Mal dorthin reisen. Die ganzen ehemals deutschen Gebiete lagen nach dem Krieg ja plötzlich in sozialistischen Staaten.
Sie mussten einen Transit-Zug durch die DDR nehmen, um nach Polen zu kommen, was meine Oma, die immer noch lebt, als abenteuerlichsten Teil der Reise beschreibt – wegen der schlechten Schienen und der vielen Kontrollen. In Danzig und Westpreußen haben sie sich dann nie wieder heimisch gefühlt, auch wenn sie noch mehrmals dorthin gereist sind. Die Polen haben die Altstadt von Danzig sehr liebevoll wieder aufgebaut – ich war Anfang der Neunziger Jahre selbst einmal dort – aber es war eben keine Heimat mehr. Die mehr als 25 Jahre, die sie nicht dorthin reisen konnten, hatten einen Abnabelungsprozess in Gang gesetzt, der nicht mehr zu stoppen war. Meine Oma leidet bis heute darunter.
Christian: Für mich war es schlimm, meinen Großvater beim Trauern zuzusehen. Er wurde über 90 Jahre alt. Er hat mir bis zum Schluss seine Geschichten aus der alten Heimat Bessarabien erzählt. Seine Trauer konnte er vor mir nicht verstecken.
Aber zurück zu meiner Mutter und ihrem sozialistischen Arbeitskollektiv. Stand sie wieder einmal in ihrer Kindergartenküche und
Weitere Kostenlose Bücher