Echt? In der DDR gab's mehrere Parteien? - Ein Ossi und ein Wessi beginnen einen Dialog (German Edition)
Was allerdings in deinen Gedichten nicht so gut herüberkommt, das ist, dass du die führende Rolle unserer Arbeiterklasse und ihrer Partei nicht genug würdigst. Das muss sich ändern, Christian." Plötzlich erhob er sich, gab mir mein Blatt Papier mit dem Gedicht zurück und sagte noch: „Ändere das, Christian!"
Daniel: Was war denn ungefähr der Inhalt? Oder war es schon Grund genug für eine Rüge, wenn ein Gedicht nur von Emotionen und der schönen Natur handelte, und die Arbeiterklasse und die Partei mit keinem Wort erwähnt wurde?
Christian: Nein, ein einfaches Gedicht über die Natur war es wohl nicht. Eher ging es in die Richtung, dass wir alle zusammen unser sozialistisches Heimatland gestalten wollen, aber da habe ich halt die Spielregeln nicht beachtet, von denen ich damals nicht einmal etwas wusste. Hätte ich geschrieben, dass die sozialistische Arbeiterklasse der DDR unter Führung der SED unser sozialistisches Heimatland aufbaut und andere Schichten der Bevölkerung dabei mitzieht, wäre alles auf Linie und somit in Ordnung gewesen.
Daniel: Aber die anderen Jungpoeten kannten die Spielregeln anscheinend ganz gut. Oder war das alles überhaupt keine richtige Poesie, was die geschrieben haben? Ich stelle es mir schwierig vor, Gedichte zu schreiben, wo sich jede zweite Zeile auf Biegen und Brechen auf Arbeiterklasse oder Partei reimen muss.
Christian: Klar war das langweilig, deshalb hat ja von diesen literarischen Meisterwerken auch nichts überlebt.
Als ich mit meinem Gedicht in der Hand auf dem Schulflur stand, fühlte ich mich immer noch wie in einer dichten Nebelwand. Ich fragte mich, was das eben eigentlich gewesen war? Das Schulhaus war ganz still und ich ging erst mal aufs Klo. Kaltes Wasser in meinem Gesicht half mir, mich ein wenig abzukühlen. Da ich kein Handtuch fand, mit dem ich mich hätte abtrocknen können, muss ich wohl in meiner laufenden Deutschstunde ausgesehen haben, als hätte ich gerade geheult. Mein Lehrer schaute mich besorgt an, sagte jedoch keinen Ton. Später, als wir etwas schreiben sollten, kam er an meinen Platz und fragte mich leise: „Alles in Ordnung mit dir?"
Wenige Tage später war dieses Ereignis für mich wieder weit weg, nicht vergessen, aber längst verjährt und als nicht mehr aktuell abgehakt. Allerdings nicht für meinen Schuldirektor. In einer Hofpause rief er mich heran und bat mich wiederum in sein Büro. Jetzt sofort wollte er das von mir überarbeitete Gedicht sehen. Ich hatte weder eine neue, noch die alte Fassung, ich hatte nichts dabei. Ich konnte ihm nichts zeigen, selbst wenn ich gewollt hätte. Ich hörte von ihm dann den Satz: „Tja, Christian, wenn wir uns nicht auf dich verlassen können, dann wirst du auch nicht studieren können." Und damit war die Szene zu Ende. Von einer Sekunde zur anderen wurde aus dem guten Schüler einer, dem alles egal war.
Daniel: Interessanterweise habe ich ebenfalls eine Szene aus dem Deutschunterricht, in dem mir im Westen eine Art von Zensur widerfuhr. Es war in der vierten Klasse. Wir sollten in der Klassenarbeit einen Aufsatz schreiben, in dem wir uns eine Geschichte ausdenken sollten, was passieren könnte, wenn wir allein ohne Eltern zu Hause waren. Ich habe eine Krimigeschichte geschrieben, in der Einbrecher in die Wohnung einstiegen und sich der Ich-Erzähler irgendwo verstecken musste. Das war natürlich von dem Film „Kevin allein zu Hause" inspiriert, wenn ich heute darüber nachdenke – aber so schlecht kann die Geschichte nicht gewesen sein.
Die Lehrerin hob nämlich ausdrücklich hervor, dass es eine gut geschriebene Geschichte sei, als sie die Aufsätze zurückgab. Nur, setzte sie hinzu, dass „wir uns hier nicht mit kriminellen Themen beschäftigen". Deshalb bekam ich eine Vier. Sie hat diese Ansprache auch vor der ganzen Klasse gehalten. Für mich war spätestens von diesem Moment an klar, dass Deutschunterricht Mist ist und Schule sowieso. Es hat Jahre gedauert, bis ich wieder irgendwas Sinnvolles zu Papier gebracht habe. Heute ist Schreiben mein Beruf.
Christian: Mir war klar, dass der Genosse Direktor die Macht hatte, von einer Sekunde zur anderen über einen Studienplatz zu entscheiden. Ich verlor jedes Interesse an der Schule. Schnell war dies auch an den Noten zu merken. Doch niemand kümmerte sich mehr um mich. Erst als ich begann, die Schule zu schwänzen, trafen mich wieder die Erziehungsmaßnahmen meiner sozialistischen Bildungsstätte.
Wie gern hätte
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