Echte Biester: Roman (German Edition)
Mädchen haben Jungs immer Zeit«, sagte Tuna.
Wahoo hätte nur zu gern das Thema gewechselt. Er hatte ihr die Wahrheit gesagt – er hatte noch nie eine richtige Freundin gehabt. Den größten Teil seiner Freizeit verbrachte er damit, sich um die Tiere seines Vaters zu kümmern. Sie beide stellten ein Zwei-Mann-Unternehmen dar, das all ihre Energie beanspruchte.
»Ich hatte mal einen Freund«, verriet Tuna. »Er hieß Chad und konnte hundert Liegestütze hintereinander machen. Leider war er ein Schwachkopf, deshalb habe ich ihn entsorgt.«
»Wo denn?«
»Ha, ha«, sagte sie. »Könntest du mir jetzt endlich mal erzählen, was mit deinem Daumen passiert ist?«
Wahoo war froh, dass er über etwas anderes reden konnte, auch wenn es nur diese blöde Verletzung war. »Den hat Alice abgebissen«, erklärte er. »War allein meine Schuld.«
»Darf ich mal sehen?«
Ohne auf Erlaubnis zu warten, griff Tuna nach seiner rechten Hand und strich so sanft mit zwei Fingern über die Narbe, dass es Wahoo gar nicht störte. Die grazile Echse, die Tuna wie eine grüne Brosche auf den Kragen ihrer Regenjacke platziert hatte, sprang auf den Fußboden der Veranda und verschwand zwischen den Dielen.
»Wenn wir diesen Auftrag verlieren«, sagte Wahoo, »nimmt die Bank uns unser Haus weg.« Verblüfft bemerkte er, dass er ihre Hand hielt und sie den Druck seiner Finger erwiderte. »Gestern hat die Bank eine Nachricht auf meinem Handy hinterlassen. Eigentlich ist es unser Handy. Pop und ich benutzen es beide.«
Tuna blies mitfühlend die Backen auf. »Über Banken weiß ich Bescheid. Deshalb wohnen wir jetzt ja auf dem Parkplatz von Walmart. Aber im Unterschied zu meinem Alten versäuft bei euch niemand das ganze Geld, Lance. Dein Dad versucht zumindest, was zu tun.«
»Du hast doch gesehen, was heute auf dem Sumpfboot passiert ist – wenn er so weitermacht, werden sie uns einfach feuern.«
»Nein, werden sie nicht«, erwiderte Tuna. »Weil wir das nämlich nicht zulassen werden.«
»Du kennst ihn nicht so gut wie ich.«
»Und du kennst mich nicht.« Sie lächelte und ließ seine Hand los. »Ich glaube, da will jemand was von dir.«
Raven Stark kam die Treppe der Veranda hochmarschiert und bat Wahoo um ein Gespräch unter vier Augen. Tuna winkte Wahoo verschmitzt zu und überließ ihn seinem Schicksal.
»Hör mal, junger Mann«, begann Raven in strengem Ton. »Dein Vater treibt es immer mehr auf die Spitze …«
Der Rest der Standpauke ging im immer lauter werdenden Lärm eines Hubschraubermotors unter. Irritiert warf Raven einen Blick über die Schulter. Dann drehte sie sich zu Wahoo zurück, drohte ihm mit dem Finger und formte mit dem Mund die Worte: »Letzte Chance, Freundchen!« Anschließend eilte sie zu dem freien Platz, wo der Hubschrauber stand, der Derek Badger in die Stadt bringen sollte.
Wahoo hörte, wie jemand seinen Namen rief, und rannte zur Anlegestelle hinunter. Der Regisseur und ein paar Leute vom Team saßen bereits in Links Sumpfboot und warteten darauf, zum Lagerplatz übergesetzt zu werden. Tuna hatte vorn am Bug einen Platz für Wahoo frei gehalten. Er schnappte sich seinen Rucksack und ging an Bord.
»Was ist mit deinem Dad?«, fragte Tuna.
Wahoo wusste sofort, dass es keinen Sinn hatte, Link darum zu bitten, dass er auf seinen Vater wartete; der Typ wollte Mickey auf keinen Fall wieder an Bord haben. Nachdem Link das Tau losgebunden hatte, kletterte er auf den Fahrersitz und griff mit seiner behaarten linken Hand nach dem Steuerknüppel. Anschließend drehte er den Zündschlüssel, trat mit dem rechten Fuß aufs Gaspedal und ließ den Motor aufheulen.
Unverzüglich setzte sich der große Propeller in Bewegung. Das Sumpfboot fuhr langsam an, wurde jedoch immer schneller und schoss durch das Schneidegras, dessen Spitzen braun wie Zimt waren. Link ging so scharf in die erste Kurve, dass das Boot steil nach oben kippte – etwas, das Touristen immer entzückte. Um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, hakte Tuna sich bei Wahoo unter, der diesen Moment genossen hätte – wenn er nicht abgelenkt worden wäre: Keine hundert Meter vor ihnen tauchte plötzlich etwas auf und sie steuerten direkt darauf zu.
»Stopp!«, schrie Wahoo, doch Link hörte ihn wegen des Motorenlärms nicht. Eigentlich hätte er von seinem erhöhten Fahrersitz sehen müssen, was Wahoo – und jetzt auch die anderen – deutlich erkennen konnten: einen Mann mit nacktem Oberkörper, der ausgestreckt auf einem schwarzen,
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