Echte Morde
Höchstwahrscheinlich nahm mir Amina nicht einmal ab, dass mir im langweiligen Lawrenceton ein echtes Schockerlebnis widerfahren war. Ich beschloss, sie am Abend anzurufen. So hatte ich gleich eine Perspektive, die mich erheblich aufmunterte.
Was das Schockerlebnis selbst anbetraf: Der erste Schreck war verklungen, jetzt kam mir die Sache zunehmend irreal vor, wie in einem Buch. Ich hatte so viele Bücher gelesen, in denen eine nichtsahnende junge Frau einen Raum betrat (über ein Feld wanderte, eine Treppe hinunterschritt, den Fuß in eine Gasse setzte), um dort eine Leiche zu finden. Wenn ich an die Situation am Vorabend dachte, gelang es mir mehr und mehr, mich von der Realität der toten Marnie zu distanzieren und nicht mehr an Marnie als Person zu denken.
All das wurde mir bewusst, während ich ein nahrhaftes Mittagessen aus Käsekräckern und Dosenthunfisch zu mir nahm, und noch etwas: In meinem Leben war so lange nichts mehr geschehen, dass ich jetzt, wo einmal etwas passiert war, natürlich stundenlang über jedes Detail nachdachte. An mir würde sich so schnell kein Augenblick unbemerkt und unanalysiert vorbeischleichen können.
Das ging nicht. Ich musste aufhören zu grübeln und irgendetwas unternehmen.
Die Entscheidung fiel leicht, hatte ich doch den Geschmack des schlechten Mittagessens noch deutlich im Mund. Ich würde einkaufen gehen. Rasch stellte ich mir eine kleine Liste zusammen, wie ich es immer tat, und kramte mein Treuepunktesammelheft hervor.
Im Supermarkt war es voll, wie immer am Samstag. So traf ich mehrere Personen, die wussten, was am Abend zuvor vorgefallen war, und mir wurde klar, dass ich mit jemandem, der nicht dabeigewesen war, nur ungern über das Geschehene redete. Niemand hatte mich aufgefordert, die Parallelen zwischen diesem Mordfall und einem anderen, historischen, nicht zu erwähnen, aber ich sah auch wenig Sinn darin, diese Parallelen nacheinander vor zehn und mehr Leuten auszubreiten. Obwohl ich auf die mir gestellten Fragen so knapp wie möglich antwortete, hielten sie mich doch ziemlich auf, weswegen ich vierzig Minuten nach meinem Eintreffen im Laden erst knapp die Hälfte meiner Liste abgearbeitet hatte. Ich stand gerade an der Fleischtheke und überlegte, ob ich „mageres Hack" oder doch lieber „sehr mageres Hack" kaufen sollte, als ich es klopfen hörte. Das Klopfen wurde lauter und drängender, bis ich aufsah. Hinter dem Glas, das die Schlachter von der Kühlauslage mit den Fleischwaren trennte, stand Benjamin Greer, das einzige Mitglied von Echte Morde, das bei der Zusammenkunft am Vorabend gefehlt hatte, und pochte gegen die Trennscheibe. Hinter ihm taten glänzende, stählerne Maschinen ihre Arbeit, und ein weiterer Schlachter in blutbeschmierter Schürze verpackte Rollbraten.
Benjamin war ein stämmiger Mann mit schütterem, blondem Haar, das er sorgfältig frisierte, um die frühzeitig kahle Stelle oben auf seinem Kopf zu kaschieren. Früher hatte er versucht, das Fehlen des Haupthaars durch einen Schnurrbart zu kompensieren, aber den hatte er wieder abgenommen, worüber ich froh war, war durch den Bart doch nur der Eindruck einer ständig verschmutzten Oberlippe entstanden. Benjamin war weder besonders groß noch besonders klug. Beides Mängel, die er durch übertriebene Freundlichkeit wettzumachen trachtete.
Irgendwie ließ mich sein Verhalten immer an einen eifrigen jungen Hund denken, der unbedingt einfach alles für einen tun wollte. Das war die eine Seite. Brauchte man seine Hilfe nicht und konnte man mit seiner Dienstwilligkeit wenig anfangen, dann schnappte Benjamin schnell ein und war beleidigt, ganz gleich, wie taktvoll man mit ihm umging - das war die Kehrseite der Medaille. Benjamin war ein schwieriger Mensch. Er gehörte zu den Leuten, bei denen man sich schämte, wenn man sie nicht mochte, während sie es einem praktisch unmöglich machten, sie zu mögen.
Natürlich mochte ich ihn nicht. Er hatte mich dreimal gebeten, mit ihm auszugehen, was ich jedes Mal abgelehnt hatte, obgleich ich mich sehr dafür schämte. So sehr ich mich auch nach Verabredungen sehnte, den Gedanken, mit Benjamin auszugehen, konnte ich einfach nicht ertragen.
Er hatte bei einer fundamentalistischen Kirchengemeinde Anschluss gesucht, er hatte versucht, eine Jugendmannschaft zu trainieren, und jetzt versuchte er es bei Echte Morde. Benjamin suchte Freunde.
Ich warf ihm ein verkniffenes Lächeln zu, wobei ich insge-heim das Hackfleisch verfluchte, das mich in seine
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