Echtzeit
Schnell drückte sie den Anrufer weg und erntete einen skeptischen Blick ihres Vaters. »Das ist nur ein befreundeter Musiker, der unbedingt möchte, dass ich heute Abend zu einer Einweihungsparty komme. Mehr nicht.«
»Fräulein Nina Becker!« Mühsam richtete sich der schwächliche Mann auf. Väterlicher Ernst, der keinen Widerspruch duldete, legte sich in seinen Ausdruck. »Seit wann lehnst du so eine Einladung ab?«
Nina fuhr sich durch die Haare. »Paps, ich glaube nicht, dass im Moment der richtige Zeitpunkt ist, um auszugehen.« Sie war froh, hier bei ihrem Paps sein zu können. So konnte sie sich der Begegnung mit Tom entziehen. Sein Verhalten – diese freundschaftliche Art, als wenn nie etwas zwischen ihnen gewesen wäre – tat ihr innerlich weh. Aber warum eigentlich? War es denn nicht das, was sie von ihm wollte? Sex ohne Verpflichtungen? Ein höfliches, freundliches Miteinander? Ja, das war es, was sie bei all den anderen Männern gesucht hatte. Aber nicht so bei Tom. Nein, er hatte einen Platz in ihrem Herzen. Doch der ihre war nun durch seinen kleinen Sohn besetzt worden.
Gedankenverloren strich sie über ihr Gitarrentattoo auf ihrem Unterarm. Tom war, neben ihrem Vater, ihr einziger Bezugspunkt hier in Berlin, doch seit gestern war ihr diese Stadt fremd geworden.
Kühle Fingerspitzen berührten ihre Hände »Du brauchst dringend etwas Ablenkung.«
»Das ist nicht so einfach. Im Moment ist alles so verkorkst.«
»Genau deshalb musst du dringend mal unter Menschen, die nicht krank oder mit Arbeit verbunden sind. Ich bin hier gut aufgehoben.«
Nina atmete tief durch. Natürlich hatte ihr Vater recht und bereits gestern hatte ihr die Ablenkung gut getan. Und Tom? Ach verdammt, seit wann ließ sie sich von so etwas unterkriegen? Sie hatte noch nicht einmal richtigen Liebeskummer.
Erneut kündigte ihr Telefon einen Anrufer an.
»Du wirst da jetzt rangehen und dann siehst du zu, dass du für heute Abend hier verschwindest. Und feiere für mich mit.«
»Ahhh, da bist du ja!«, rief Jo freudig, als sie den Eingangsbereich des Tonstudios betrat. Sofort schlang der Freizeitmusiker beide Arme um sie, hob sie hoch und wirbelte sie einmal herum.
»Wohoo! ganz ruhig, Brauner!« Sie brauchte einen Moment, bis sie sich wieder orientieren konnte. Die Räumlichkeiten versprühten den Charme einer halbfertigen Baustelle, die schon von ihren Bewohnern bezogen wurde. In einer Ecke stand sogar noch ein Presslufthammer herum. Die Jungs hatten ihr gestern schon erzählt, was sie alles in ihrem Studio umgebaut hatten und selbstgemacht wirkte hier definitiv alles. Und das gefiel ihr. Auf Anhieb fühlte sie sich hier viel wohler als in dem professionellen Tonstudio in London, in dem ihre Band arbeitete.
»Na, dann komm mal mit.« Das volle Weber-Grinsen ließ sie widerstandslos gehorchen und er schob sie in eine Richtung, aus der bereits lautes Stimmengewirr zu hören war. Es musste schon einiges los sein.
»Vorsicht!« Er schlug mit der flachen Hand gegen den Beton eines niedrigen Durchgangs. »Hier bitte Kopf einziehen«, erklärte er und bückte sich.
»Ja nee, is klar!«, knurrte sie und blieb in dem Durchgang stehen.
Irritiert drehte ihr neuer Grinsefreund sich um und brach in schallendes Gelächter aus. Nina hatte noch locker eine Handbreit Platz bis zum Sturz.
»Ich würde glatt behaupten, du bist die Erste, die erhobenen Hauptes durch diese heiligen Hallen gehen kann.« Er zog sie weiter. »Ich deute das Mal als Zeichen.« Und schon schob er sie in einen großen, mit Instrumenten und Menschen vollgestopften Raum. Sehr vielen Menschen. Nina war noch nie gut darin gewesen, Mengen zu schätzen, jedoch waren definitiv genug Leute hier, dass sie Tom locker den ganzen Abend aus dem Weg gehen konnte. Aber wenn man vom Teufel sprach!
»Nina!«, rief Tom, drückte sich an jemandem vorbei und kam direkt auf sie zu. Sofort zog er sie an seine Brust. Mit der Nase streifte er ihr Haar und jagte ihr wie am Tag zuvor einen Schauer über den Rücken, als er tief einatmete.
»Du bist doch gekommen«, flüsterte er nah an ihrem Ohr.
»Siehste! Von wegen, ich kann so bei ihr nicht landen.« Jo brüstete sich ordentlich mit seinem Erfolg, sie doch noch hergelockt zu haben.
Tom erwiderte das nur mit einem kleinen Lächeln und wandte sich dann wieder an sie. »Schicke Klammotte.« Er zupfte an ihrer karierten Bluse.
»Kann ich nur zurückgeben.« Obwohl ihr eigentlich nicht danach zumute war, grinste sie. Tom trug
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