Echtzeit
und zog sie so weit es ging wieder zu, dann verharrte er.
»Ist Papa weg?«, hörte er seinen Sohn leise fragen.
»Ja.« Nina flüsterte ebenfalls. »Die Luft ist rein. Du kannst rauskommen.«
Er hörte, wie ein Stuhl zurück geschoben wurde und wartete noch ein paar Sekunden. Dann stürmte er mit lautstarkem Gebrüll wieder rein und schnappte sich Paul. Dieser quietsche laut, halb vor Schreck und halb vor Vergnügen. Tom schwang ihn über seine Schulter und kitzelte ihn erbarmungslos in den Kniekehlen, während er seine Beine festhielt. Paul lachte, quiekte und wand sich in seinem Griff. Und Nina saß dort und lachte so herzhaft, dass Tom nicht die Augen von ihrem Gesicht nehmen konnte.
»Lass mich runter, Papa! Bitte!« Paul war völlig außer Atem vom Lachen und Tom zeigte schließlich Erbarmen. Er stellte ihn wieder auf den Boden und betrachtete ihn kritisch.
»Zeig mal deine Hände.«
Der Junge tat, was von ihm verlangt wurde. Seine Finger waren immer noch voller Farbe.
»Hatte ich dich nicht gebeten, deine Hände zu waschen, junger Mann?«
Paul zog einen Mundwinkel nach oben.
»Los, beeil dich, deine Mutter kommt dich gleich abholen.«
»Okay! Tschüss, Nina!« Er winkte mit seiner bunten Hand und sauste davon.
»Tut mir leid, wenn er dich von deiner Arbeit abgehalten hat.«
»Schon okay.« Sie lächelte noch immer. »Paul ist echt ein toller Junge und du bist ...« Sie brachte ihren Satz nicht zu Ende. Stattdessen schwieg sie einfach. Ihr Gesicht verdunkelte sich und sie griff demonstrativ wieder zu Stift und Taschenrechner.
Tom fuhr sich über das Gesicht. Er sah sofort, dass sie etwas bedrückte. Immer wenn sie länger als ein paar Minuten allein in einem Raum waren, baute sie diese Mauer um sich herum auf.
»Ist noch was?« Sie hob den Kopf.
»Nein. Oder doch, ich wollte ...«
»Tom, du hast da Farbe an der Wange.«
»Oh!« Er rieb mit der Handfläche über die Stelle, die sie angedeutet hatte.
Sie lachte wieder und legte ihren Stift ab. »Du verteilst sie nur noch mehr in deinem Gesicht. Warte.« Rasch rutschte sie von der Bank und stellte sich vor ihn. Sie war nur wenige Zentimeter entfernt. Tom nahm ihren Geruch wahr und spürte die Wärme, die ihr Körper ausstrahlte. Zögernd hob sie ihre kleine Hand und berührte ihn ganz sanft an der Wange. Ihre Fingerkuppen fühlten sich nicht mehr so rau an wie damals, sie waren viel weicher. Während sie über seinen Bart rieb, taxierte er ihr Gesicht. Sie war vollkommen konzentriert auf ihr Tun – ihre Kiefer mahlten und ihr Blick wich seinem eisern aus.
»Nina.« Er flüsterte. Zart strich er mit den Fingerknöcheln über ihre Narbe unter dem Auge. Ihre Lider hoben sich und sie sah ihn direkt an. Der Ausdruck in ihren Augen war unergründlich. Er spürte die Tiefe des Augenblicks und zugleich die Fesseln, an die sie gebunden war.
»Wo zur Hölle ist dein Vater?«, kreischte es auf einmal durch das Gebäude.
Sofort nahm Nina ihre Hand von seiner Wange und trat einen Schritt zurück. Tom biss die Zähne aufeinander. Diese Frau war noch immer der größte Fehler seines Lebens. Niemals hätte er sich auf Katrin einlassen dürfen. Damals hatte er versucht, mit ihrer Hilfe den Schmerz des erneuten Verlustes zu verdrängen. Und als er begriffen hatte, dass Katrin nicht die Richtige für ihn war, war es bereits zu spät gewesen: Denn sie war bereits schwanger.
»Tom!«, kreischte Katrin quer durchs Gebäude.
Dieser ließ Nina stehen und stürmte in den Flur hinaus. Je weniger Katrin von dem Zustand der Baustelle sah, desto weniger Grund würde sie haben, sich aufzuregen.
Der kleine Paul stand mit hängenden Schultern vor seiner Mutter, die hektisch an seinen Händen rieb, um die getrocknete Farbe von seiner Haut zu kratzen.
»Was zum Teufel hast du mit ihm gemacht?« Wütende Blicke durchbohrten ihn.
»Wir haben nur eine Wand gestrichen«, erklärte Tom lässig.
»Das war voll cool, Mama. Papa hat auch wieder was total Geiles gezeichnet. Ich will auch so zeichnen können wie Papa!«
»Geil?«
Tom verdrehte die Augen. Natürlich war dieser sprachliche Fauxpas seines Sohnemanns das Einzige, was Katrin wahrgenommen hatte.
»Siehst du? Deshalb will ich nicht, dass er hier rumhängt.«
»Tut mir leid, Katrin, aber wenn du Paul mit zur Arbeit in deine Galerie nimmst, darf ich ihn hierhin mitnehmen. Wir können das natürlich auch gern wieder vor Gericht klären lassen, wenn du das willst.«
Sie zischte wütend durch die Zähne und schien
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