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Echtzeit

Titel: Echtzeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel Barylli
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Wildschweinbraten den ungeschnittenen Schnauzbart verklebte.
    Mein Gott!, dachte ich mir, der Mann hat Humor! Das ist ja, wie wir wissen, die seltenste Tugend bei diesen Wesen. Langsam habe ich dann angefangen zu fragen, warum er eigentlich ohne Weib lebte. Arzt, gutaussehend, blond, blauäugig, vermögend, gepflegt … woran konnte es liegen? Ich habe mir gedacht: Vielleicht lügt er? Vielleicht ist das einer von denen, vor denen ich dich gewarnt habe – Isabell. Vielleicht ist das Ganze eine getürkte Angelegenheit. Also habe ich ihn um vier Uhr früh gebeten, ob er mir ein Foto von sich mailen könnte. Dazu musst du wissen, dass das eine sehr unübliche Vorgangsweise ist. Auch im Internet gibt es ungeschriebene Verhaltensregeln. Und eine davon besagt, dass man erst einmal eine Zeitlang Worte wechselt, bevor man sich zu erkennen gibt. Das hat den Vorteil, dass man ein wenig in die Personality des anderen einsteigen kann, bevor man sich auf die Äußerlichkeiten fixiert. Aber gut. Ihm schien das nichts auszumachen. Im Gegenteil. Es kam nicht nur ein geschöntes Passfoto, es kam eine ganze Galerie. Herbert als Portrait. Herbert mit Freunden vor einer Berghütte, Herbert in der Badehose an einem Poolrand. Und auf all den Fotos war er gut gewachsen, sauber und blond.
    Daraufhin konnte ich nicht an mich halten und habe ihm ein Foto von mir geschickt. Das Nacktfoto aus Ibiza. Weißt du noch? Das mit dem weißen Lederminirock und den Cowboystiefeln. Das Foto, wo ich nur einen weißen BH trage. Und so braun bin. Ja?! Also genau das habe ich dem Herrn Oberarzt geschickt.
    Und die Antwort war auch wirklich sehr charmant. Er hat geschrieben, dass er nach diesem Foto überhaupt nicht mehr einschlafen kann und die Stunden zählt, bis wir uns endlich im Bahnhofscafé treffen könnten!
    Ist das nicht nett? Ich sage dir, so gut situierte, blonde, gepflegte Ärzte haben etwas an sich, was Frauen schwach machen könnte. Noch hatte ich allerdings meinen Verstand nicht völlig ausgeschaltet und so habe ich ihn gefragt, warum es denn unbedingt das Bahnhofscafé sein muss? Für ein erstes und vielleicht romantisches Treffen zweier einander unbekannter Herzen?!
    Er hat mir dann prompt für die »intime Frage« gedankt und mir dann drei Seiten lang erklärt, warum das Bahnhofscafé für ihn so ein magischer Knotenpunkt in seinem Leben ist. Magischer Knotenpunkt! Also eine Ausdrucksweise haben sie, diese Röntgenärzte, dachte ich mir und habe voller Rührung gelesen, was er mir da zu seinem »magischen Knotenpunkt« sagen wollte.
    Als kleiner Junge war er immer mit seinen Eltern zum Bahnhof gefahren, um von dort in die großen Ferien aufzubrechen. Wochenlang hatte er immer in seinem Jungenbett diesem Tag entgegengefiebert. Wusste er doch darum Bescheid, dass sich jedes Jahr das gleiche Ritual abspielen sollte. Eine Stunde vor Zugabfahrt hatte man die Fahrkarten gekauft. Danach hatte man ein wenig Reiselektüre erworben. In seinem Fall waren das »Bessy-Hefte« … hie und da auch noch ein Mickymaus-Taschenbuch und danach, als wirklich alle Reisevorbereitungen abgeschlossen waren, war man immer zu dritt in das Bahnhofscafé gegangen. Das Bahnhofscafé, das im Stil einer Salzburger Berghütte ausgestattet war. Dort durfte sich Herbert jedes Jahr einen Himbeerkuchen und ein Glas kalte Milch bestellen. Seine Eltern bevorzugten einen leichten Weißwein.
    Ja, und da saß dann Herbert jedes Jahr und fütterte sein »emotionales Gedächtnis«. Wirklich! Das hat er mir geschrieben! Der Himbeerkuchen mit Milch, angesichts der bevorstehenden Sommerferien, hatte ihn regelmäßig so glücklich gemacht, dass diese Information in seinem »emotionalen Gedächtnis« mit abgespeichert wurde. In einer goldenen Schatzkiste. Und seit diesen Tagen, vor vielen Jahren, ist Herbert immer dann, wenn großartige Wendepunkte in seinem Leben Platz greifen sollten, in das Bahnhofscafé gefahren. Um emotional umarmt zu sein von seinen ureigensten Glücksgefühlen!
    Ist das nicht eine erschütternde, bewegende Geschichte! Und ich! Deine Susanna! Isabell! Ich! … Deine Susanna war es ihm wert, dass er mich in seine Gralsburg ließ. In seinen Rosengarten. In sein Allerheiligstes! Ich war mehr als tief bewegt. Ich war emotional schockiert. Er hat dann noch seitenweise ziemlich eindeutige Hinweise geschickt, dass er emotional auch auf das Innigste berührt war. Durch unser Gespräch. Und sich durchaus vorstellen konnte, mit mir einen langen Weg gemeinsam zu gehen. Den

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