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Echtzeit

Titel: Echtzeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel Barylli
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Erfüllung des Rituals. Das hat er mir deswegen so eilfertig berichtet, weil ich kurz erzählt hatte, dass ich die Fernsehbilder sehr abstoßend fand, in denen zu sehen ist, wie kleinen Mädchen am Boden liegend die Klitoris mit Glasscherben abgeschnitten wird. Ich wollte auf diese Weise testen, was dieses zweibeinige Wesen, das auf den Namen Herbert hörte, dazu zu sagen hatte. Ich wollte wissen, wie wasserdicht sein persönliches System war.
    Das ist nämlich ein sehr interessantes Faktum bei allen Wahnsinnigen. Aber Wahnsinn hat Methode. Er hat ein in sich stimmiges System. Anders als bei Verrückten. Der Verrückte sitzt in einem Metallkäfig und glaubt, er fliegt über das Kuckucksnest. Und im nächsten Moment kann er sich nicht mehr daran erinnern, weil er ja ein Maulwurf ist. Darum robbt er grunzend über den Boden der Irrenanstalt. Auf der Suche nach seinem Hauptgang. Der Verrückte macht es uns leicht, Abstand zu wahren.
    Der Wahnsinnige ist gefährlich, weil er Chancen hat. Der Wahnsinnige hat sein wahnsinniges Leben so verinnerlicht, dass er ein in sich stimmiges Gebäude errichtet hat. Ein Gebäude, in dem es auf jede Frage eine entwaffnende Antwort gibt. Der Wahnsinnige fühlt sich logischerweise umzingelt von lauter Wahnsinnigen. Alle, die in den Augen des Wahnsinnigen sein in sich logisches System nicht akzeptieren, können folglich nur wahnsinnig sein. Besser gesagt: verrückt. Der Wahnsinnige fühlt sich also logischerweise den meisten Teil seiner Lebenszeit im Feindesland. Er muss seine wahren Begierden verbergen und weitgehend unterdrücken, um von den Mitgliedern einer relativ normalen Gesellschaft nicht eingesperrt zu werden. Und in unserer Gesellschaft ist es weitgehend normal, eine Frau nicht zu beschneiden.
    In unserer. Es gibt Kulturen, in denen wir als die Verrückten gelten – zumindest aber als die Gottlosen, weil wir das als normal ansehen. Du siehst, Isabell: Es kommt nur auf deinen Standpunkt an. Nicht wahr? Um jetzt also in das Gespräch über seine wahren Absichten zu kommen, musste der wahnsinnige Herbert Charme entwickeln. Einerseits vermutete er, in mir endlich die geeignete Partnerin für sein Glaubensbekenntnis gefunden zu haben … andererseits war ich für ihn doch eine Vertreterin aus der Welt der Verrückten. Sonst wäre ich ja schon beschnitten. Logisch. Es ging also darum, einen Übertritt zu seinem Glauben zu betreiben. Und das wiederum geht nur mit Verführungskunst, Eloquenz, heiteren Argumenten und einem lächelnden Gesicht. Mit Charme eben.
    Als ich nun die Fernsehbilder angesprochen hatte, nickte Herbert wehmütig und zustimmend. Er verstand mich. Absolut. Er verstand mich und begann mir zu erklären, warum er ein wenig traurig war. Ja sogar ein wenig empört. Gehirnwäsche! Das war sein Stichwort. Das, was das so genannte freie Fernsehen der so genannten freien Welt in unsere Köpfe sendet, war für Herbert Gehirnwäsche. Diese Bilder, die ich angesprochen hatte, waren extremste Ausnahmefälle.
    So also ob ein Berichterstatter aus Korea einen übergebenden, alkoholisierten Obdachlosen filmen würde und dann im koreanischen TV behaupten würde, so und nicht anders würde man in Paris, Berlin, Wien oder St. Pölten leben. Im »freien Westen«. Der Bericht würde allerdings nur in Nordkorea ausgestrahlt werden. Genau so. Das Westfernsehen sei nur ein Instrument in einem Kulturkampf gegen Andersgläubige. Das würde ihn wehmütig machen und auch ein wenig empört. Weil dadurch die klar und rein empfindende Frau ein falsches Bild gezeichnet bekommt.
    Mit klar und rein empfindend hat er übrigens mich gemeint. Das hatte Charme. Klar und rein. Das hat mir noch nie jemand gesagt. Mir verrücktem Huhn, das immer zu wenig Butter im Kühlschrank hat. Am Samstag, wenn die Geschäfte geschlossen haben. Na gut.
    Er erläuterte mir in der Folge die Notwendigkeit des Rituals so einfühlsam und hat die Folgen eines begierdelosen Lebens so bunt ausgemalt, dass ich mir gedacht habe – Verflucht, warum will er mich mit all diesem Charme nicht zum Golfspielen überreden, dann wären wir ein Team! Und du weißt, Isabell, wie sehr ich Golf verachte. Ich sage nur: karierte Hosen und eidottergelbe Polohemdchen. Das Grauen!
    Na gut. Ich habe ihn also reden lassen und mir gegen halb sechs gedacht: Susanna, es ist an der Zeit, dieses üble Spiel zu beenden. Einfach aufstehen und gehen wäre zu billig gewesen. Ich wollte eine Art von raffiniertem Triumph. Etwas, wovon ich noch meinen

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