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Echtzeit

Titel: Echtzeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel Barylli
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schlussendlich, warm, fordernd, aber nicht drängend, auf den meinen fühlte. Er küsste so, wie man hofft, dass Clark Gable geküsst hat. Damals. In den Zeiten, in denen ein Mann noch ein Mann war …
    Fragst du dich jetzt auch schon langsam, warum den bislang noch keine andere abgeschleppt hatte?! Ja? Isabell? Ich werde es dir jetzt erzählen! Nach einem Kuss von ungefähr drei Minuten und siebenundzwanzig Sekunden Dauer sah er mich lange und durchdringend an und sagte: »Jetzt, wo ich nicht nur weiß, sondern in diesem Kuss auch gefühlt habe, dass du die einzig Richtige bist für mich, möchte ich gerne mit dir die Vorbereitungen zum Ritual besprechen.«
    Aha, ein Katholik, dachte ich mir. »Das Ritual«, damit war ja wohl unser Hochzeitsritus gemeint. Wahrscheinlich schwebte ihm eine kleine Kapelle am Strand der Seychellen vor. Oder eine Dorfpfarrei mitten im Herzen Bayerns. Oder der Petersdom. In Rom. Die Katholiken haben es ja immer schon verstanden, die schönsten Plätze der Welt zu okkupieren. Und für ihre Rituale zu vereinnahmen. Natürlich waren das allesamt Kultstätten jahrtausendealter Naturreligionen, wo sie ihre Kirchen hingebaut haben. Aber damit waren natürlich zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen. Der Vormachtsanspruch war dokumentiert und der Gegner komplett ausradiert. Wenn man die eigene Kirche auf die Grundmauern seines Tempels stellt. Sehr klug. Sehr durchdacht.
    Also ein Katholik. Auch gut. Kein Jude, kein Moslem, das bedeutet schon einmal, dass er nicht beschnitten ist. Das gefällt mir nämlich nicht so sehr. Um die Wahrheit zu sagen. Aber ein evangelischer Mann hätte es auch sein können. Unter diesem Gesichtspunkt. Mit dem kleinen Unterschied, dass die Katholiken einfach prunkvoller sind. In ihrem Outfit. In ihrem Locationdesign.
    Gut. Ein Katholik. Dachte ich mir. Das bedeutet ein weißes, ausuferndes Kleid und Schärpe und Schleier. Kann ich mir sehr gut vorstellen, dachte ich mir und überlegte, ob wir nach Paris fliegen würden, um das Kleid zu finden. Oder ob wir es sogar selber schneidern lassen würden … nach meinen Vorstellungen. Mit Couturier-Besuch in unserer Villa am See?!
    Wie kann man sich so sehr irren, Isabell?! Sag es mir! Man kann sich sehr irren. Glaub mir. Das dachte ich auch, als ich Stefan kennen gelernt habe. In den drei Monaten, in denen ich ihn kennen lernen konnte. Fast nichts auf diesem Planeten ist so, wie es zu sein scheint. Glaub mir!
    Mit dem Ritual hatte er eine Beschneidung gemeint …
    Du kannst diesen Satz ruhig ein zweites Mal lesen. Beschneidung. Die Beschneidung der weiblichen Geschlechtsorgane. Die Entfernung der Klitoris – um genau zu sein. Das meinte mein Verlobter mit »dem Ritual«. Ich war auf eine schwer zu beschreibende Weise sprachlos. Sprachlos war ich, als er die Aktenordner auf den Tisch packte, die er in seiner cognacfarbenen Arztledertasche dabeihatte. In diesen Aktenordnern waren Klarsichthüllen eingeordnet von A–Z. Von A–Z hatte er das Vollstrecken des Rituals vorbereitet. Nachdem ich begriffen hatte, dass er das wirklich ernst meint, dachte ich mir: Es gibt nur zwei Möglichkeiten … ich gehe sofort … oder ich bleibe sitzen und höre mir an, in welche Grenzbereiche ein männlicher Geist abdriften kann.
    Dabei muss man sagen, dass es ja nur für einen westlichen Mann ein Abdriften ist. Für unsere Freunde in Zentralafrika ist es ja tatsächlich ein »Kultur-Gut«. Als er da saß und mir die Reiserouten nach Afrika erläuterte, erinnerte ich mich trübe daran, dass er mir von seiner Faszination für religiöse Bräuche in Afrika erzählt hatte. Das hatte er. Was lernen wir daraus? Man muss immer nachfragen! Nichts darf im Feld der Vermutung dämmern. Zwischen zwei Menschen. Nichts!
    Die Vermutung ist die Maske des Teufels. In diesem Gewand schleicht er sich in die Herzen der Menschen und gaukelt ihnen klare Wege vor – die alle in den Abgrund führen.
    Er war ungenau gewesen – und ich eher auch. Aus seiner Weltsicht war es wahrscheinlich völlig klar, dass ich ihn verstehen musste. Als er mir von religiösen Bräuchen in Afrika erzählte. Es war ja seine Welt. In der sein Geist täglich auf das Selbstverständlichste zu Hause war. Also – vermutete er, dass er nicht ins Detail gehen müsste. So ist das, er hat es nicht böse gemeint. Im Gegenteil. Treue war ja einer seiner wesentlichen Programmpunkte im Eheleben. Das hatte er mir schon auch erzählt. Jetzt, angesichts der Flug- und Jeep-Reisen, die uns in das

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