Ed King
dein Pop, bin in Lemberg groß geworden. Du kennst Lemberg? Erst gehörte es zu Polen, dann zu Russland. 1912 sind wir weggegangen. Damals war ich acht. Von Lemberg nach Stettin, von Stettin nach Liverpool und von Liverpool mit dem Schiff nach Ellis Island. Mein Bruder Lefty musste in Quarantäne, weil er krank war, der Rest der Familie ist weiter nach San Francisco, zu einem Bruder meiner Mutter, der Mordecai hieß. Vermutlich habe ich dir das alles schon einmal erzählt. Wenn ja, sag einfach, ich soll den Mund halten, Simon.«
Das nächste Mal kam Ed, um Pop zu Thanksgiving abzuholen und ihn zum Flughafen zu bringen, von wo aus sie mit Alaska Airlines einen Direktflug nach Seattle gebucht hatten. Dan und Alice würden sie am Flughafen erwarten. Pop war wie üblich nervös vor dem Flug, nicht weil er sich fürchtete, zehntausend Meter hoch in der Luft zu sein, sondern weil er Angst hatte, sie würden nicht rechtzeitig am Flughafen ankommen. Deshalb rief er schon früh um acht bei Ed an, um ihn daran zu erinnern, um zwei bei ihm zu sein. Um zwölf rief er das nächste Mal an, um sich zu vergewissern, ob Ed ihn auch richtig verstanden hatte, und um eins, um sicherzugehen, dass Ed auch schon unterwegs war. Als Ed um Viertel vor zwei bei ihm eintraf, lief er im Wohnzimmer auf und ab, den Mantel über dem Arm und den Koffer griffbereit neben der Tür. »Wir haben Pech«, sagte er. »Zinaida will mitfahren, weil sie ganz in der Nähe des Flughafens wohnt.«
»Kein Problem«, sagte Ed. »Wir setzen sie zu Hause ab. Das macht überhaupt nichts.«
»Was ist mit dem Verkehr? Da weiß man nie. Wir kommen zu spät«, sagte Pop. »Das war nicht eingeplant.«
Zinaida sah dieses Mal weniger schäbig aus, trug aber dennoch ihr Kopftuch und die Laufschuhe. Sie saß in ihrem nachgemachten Militärparka auf dem Rücksitz, den Reißverschluss bis oben zugezogen und die Kapuze aus Kunstpelz nach hinten geschlagen. »Da ist Centrrral Exprrresswaj«, sagte sie mit rollendem r, und: »Da ist Tomas Exprrresswaj.« Danach wurde es kompliziert. Nach einer Reihe leise geflüsterter Links- und Rechts-Kommandos sowie einigen Stoppschildern und Ampeln landeten sie in einem heruntergekommenen Viertel mit lauter planierten Grundstücken und leerstehenden Häusern hinter Maschendrahtzäunen. Sie kamen zu einem Wohnblock, der nach Pops Meinung nur zu dem einen Zweck aus staatlicher Hand finanziert wurde, nämlich um Drogendealer an einem Ort zu versammeln. Es war ein bunkerähnliches Gebäude mit lauter Sozialwohnungen, und davor stand ein Taco-Wagen. »Da«, unterbrach Zinaida Pops Geschimpfe. »Apartment.«
»Das hier?«, sagte Pop. »Sieht nicht sehr vertrauenerweckend aus. Hier gibt’s jede Menge Gewaltverbrecher, Leute, die Ihnen Ihre Handtasche klauen.«
Zanaida war bereits aus dem Honda ausgestiegen, beugte sich noch einmal in den Wagen und sagte in ihrem nüchternen Bariton: »Viele Dank und schöne Ferrrien.«
Pop mobilisierte seine sämtlichen Russischkenntnisse und sagte: » Do swidanja , Zinaida. Spasibo! «
Ed sah, dass Zinaida nur mühsam ein Lachen unterdrücken konnte, aber als sie zu Ed herübersah und bemerkte, was er dachte, verschwanden das Lachen und das Bemühen um Selbstbeherrschung sofort aus ihrem Gesicht. »Do swidanja«, sagte Ed, worauf Zinaida erneut mit sich kämpfte, noch einmal »Viele Dank« sagte und ging.
Ed sah ihr hinterher, vor allem deshalb, weil er bei ihrem unterdrückten Lächeln etwas bemerkt hatte, was ihm vorher nicht aufgefallen war, nämlich dass Zinaida auf ihre Art sexy aussehen konnte. Sie hatte kleine Grübchen unter ihren Wangenknochen, wie Faye Dunaway in Chinatown, wenngleich ohne deren Eleganz. Jetzt hoffte er, weitere Anzeichen in dieser Richtung an ihr zu entdecken, etwa an ihrem Hintern oder der Art, wie sie lief, aber da war nichts, das aufregend, attraktiv oder sexy gewesen wäre, bloß eine Frau, beinahe eine Stadtstreicherin, die aussah, als käme sie mit leeren Händen aus einem staatseigenen Geschäft, dem das Büchsenfleisch ausgegangen war, und kehrte zurück in ihre Wohnung ohne Gas und Strom.
Im Dezember bestand Pop darauf, dass Ed an Chanukka zu ihm kam. Zinaida würde Latkes machen, und sie könnten sich das Spiel Georgetown gegen Virginia anschauen. »Ewing gegen Sampson«, sagte Pop, »was für ein Duell!« Die Latkes enthielten für Eds Geschmack zu viele Zwiebeln und waren außerdem nicht in Öl, sondern in Pflanzenfett gebraten. Sie aßen sie von Papptellern vor dem
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