Ed King
einem große Mengen Morphium, und dann hat man vollends verloren. Warum also hat Alice euch hergebeten? Alice hat euch hergeholt, weil ich eine Patientenverfügung aufgesetzt und mich darin gegen künstliche Ernährung und künstliche Flüssigkeitszufuhr ausgesprochen habe. Ich esse nichts mehr und ich trinke nichts mehr, in zehn bis vierzehn Tagen ist alles vorbei, angeblich ohne große Schmerzen.«
»Du willst doch noch ein Eis essen«, sagte Alice unter Tränen.
»Ich will noch ein Eis essen«, bestätigte Dan. »Vielleicht werde ich noch ein letztes Eis essen, einen letzten Scotch trinken, aber dann ist es vorbei. Alice «, sagte er und begann zu weinen.
Alice stellte einen Betreuungsplan für Familienmitglieder und Freunde auf. Dan hatte rund um die Uhr jemanden, mit dem er reden konnte und der für ihn da war. Am fünften Tag ohne Wasser und Nahrung konnte er sein Morphin nicht mehr schlucken, sodass sie es ihm zuerst sublingual verabreichten und dann spritzten. Jeden Morgen kamen Pflegekräfte ins Haus, die ihn badeten und die Laken wechselten. Dan musste wegen der wunden Stellen Strickschuhe tragen. Dennochredete er noch immer mit den Leuten und machte sogar Witze. »Jackie Mason. Kennst du Jackie Mason? Ich komme mir mit all den Pflegekräften vor wie Jackie Mason: Ich habe genug Geld für den Rest meines Lebens – solange ich mir nichts kaufe!«
Sie hörten gemeinsam Kassetten mit seinen Lieblingsliedern aus Musicals: The Street Where You Live, Sixteen Going on Seventeen, What Do the Simple Folk Do? . Dazu Frank Sinatra und Mel Tormé, Dinah Shore und Judy Garland, von der Dan sagte, niemand singe mehr so wie sie. Seine Freunde – Ärzte und langjährige Patienten – kamen einer nach dem anderen aus Höflichkeit und Anteilnahme, um mit ihm über die alten Zeiten zu plaudern und Witze zu machen, weil Dan bis zum Schluss seinen Humor behielt. »Diese ewigen Besprechungen! Erinnerst du dich noch an Milton Berle bei unseren Besprechungen? ›Wenn man nicht mehr weiterweiß, gründet man ’nen Arbeitskreis.‹ Mein Gott, ist das lange her. Weißt du noch?«
Dann war es vorbei mit den Witzen. Wenn er nicht schlief, war er bei klarem Verstand, aber er wollte nicht mehr lachen und Witze machen, sondern über ernste Dinge reden – seinen letzten Willen, dass sie sich keinen »Luxussarg« aufschwatzen lassen sollten, wo die Bank- und Investitionspapiere zu finden waren, Alice’ künftiges Leben ohne ihn (»Natürlich sollst du wieder heiraten«). Als Ed ihn das nächste Mal sah, halluzinierte er. Er redete zusammenhangloses medizinisches Zeug daher, schwieg eine Weile, fing erneut von Prognosen und Diagnosen an und versank in einem Schweigen, das zum Koma wurde. »Vielleicht kann er dich hören, vielleicht auch nicht«, sagte Alice. »Wenn du deinem Vater noch etwas sagen möchtest, Ed, tu es jetzt, man kann nie wissen.«
Aber er wusste nicht, was er sagen sollte. Und am nächsten Tag war er dabei, als Dan starb und einen so unirdischen und dämonischen Schrei ausstieß, dass Ed erschrocken zurückwich und beinahe davongelaufen wäre. Das war es also? Darauf lief alles hinaus? Was für eine Art von Erlösung war das, die mit einem so dunklen, markerschütternden Schrei begann? Eine Woche später fand Ed eine Frau, zwischen deren Beinen er sein Gesicht vergraben durfte, so lange er wollte. Konnte es einen besseren Ort geben als das Epizentrum des Anfangs, jetzt, da er dem Ende ins Auge gesehen hatte?
9
Inzest
Um drei Uhr früh nach Clubs Verschwinden war Diane immer noch dabei, sich mit der neuen Situation abzufinden. Sein erstklassiger Abgang hatte sie komplett aus der Bahn geworfen. Sie hatte noch ganze zweiunddreißig Dollar in ihrer Handtasche. Und sie würde allein mit Ron Dominick klarkommen müssen, sollte er inzwischen hinter ihr her sein. Wie tief konnte jemand sinken? Sie ohne einen Penny und in einer solchen Gefahr zurückzulassen – was für ein mieses Schwein! Und dann sein süßliches Geschwafel. Die Boddingtons und Canasta-Runden. Seine läppische 38er Special, als ob man damit jemanden beeindrucken könnte. Von wegen »zwei vom gleichen Schlag« und »glücklicher Sesselpupser«. Und das Gemeinste von allem, nur darauf zu warten, dass sie zur Toilette ging. Ihr »Bruder« war in Wirklichkeit der größte Scheißkerl überhaupt, ein gerissener Betrüger, und weil sie so einsam war, war sie ihm nach Strich und Faden auf den Leim gegangen.
Um kein Risiko einzugehen, klopfte Diane,
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